FREITAG: Auf ein neues!

Es ist wieder Zeit, Bilanz zu ziehen. Und meine ziehe ich heuer mit großer Zufriedenheit und Ruhe – auch wenn es vielleicht nur die Ruhe vor dem Sturm ist.

Gerade bin ich noch am Strand gesessen und habe durchgeatmet, weil mir das Glück des Wiederreisenkönnens in die Knochen gefahren ist. Das war vor fast zwölf Monaten, und würde ich nicht wissen, dass ein Jahr immer gleich lang dauert, müsste ich sagen, es war um die Hälfte kürzer. Vermutlich hängt das damit zusammen, dass es proppenvoll war, vor allem mit Veränderungen. Beziehungen sind anders geworden, das Arbeiten ebenfalls, die Tagesstruktur passt sich langsam diesen Veränderung an. Auch meine Auffassung von Reisen hat sich gedreht und wird es weiterhin tun.

Und vor allem habe ich mich verändert – wie immer ganz unfreiwillig und doch sehr bewusst. Aus der Gruppendynamik weiß ich, dass sich eine Gruppe immer dann bewegt, wenn ein neues Mitglied dazukommt oder sich verabschiedet. Einer weniger, eine mehr – das macht etwas mit Menschen. Die Bewegungen in meinem sozialen Umfeld haben mir bewusst gemacht, dass auch ich mich verändern, wachsen, mich entwickeln darf. Nicht dass ich das in den vergangenen Jahren nicht gemacht hätte – die LeserInnen dieses Blog wissen das zur Genüge. Doch heuer wurden fundamentale Überzeugungen auf den Prüfstand gestellt. Und die Kernfrage war stets: Muss ich das weiter tun? Muss ich das weiter glauben? Muss ich bei einer Meinung bleiben?

Die meisten dieser Fragen habe ich mit „Nein“ beantwortet, nicht leichtfertig, sondern wohl überdacht. Denn mein Körper hat mich geführt. Wie das? Er hat heuer sehr sensibel darauf reagiert, wenn ich etwas gegen meine Natur gemacht habe. Und so musste ich auch die Überzeugung loslassen, dass ich körperliche Wehwehchen durchtauchen kann – nope! Er war sehr präzise in seinen Botschaften und hat mir Wege aus Situationen gezeigt, die mir nicht mehr gedient haben. Und genauso hat er mich bestärkt, wenn sich etwas richtig gut angefühlt hat. Und davon gab es vieles in diesem Jahr, auch wenn es sich ungewohnt angefühlt hat. Meine Einstellung, dass alles und jede/r eine Aufgabe für mich bereit hält, hat mir geholfen, mit Gelassenheit das Neues genauso wie das Alte zu überprüfen. Und siehe da, das Leben hat einen ganz anderen Drall bekommen. Wer sein Leben ab 50 nur mehr aussitzt, versäumt so viel!

Ich habe heuer begriffen, dass dieses Leben noch vieles für mich bereit hält, was ich noch nicht kenne. Und vor dem Hintergrund meiner gesammelten Erfahrung aus über fünf Jahrzehnten werde ich bestimmt das eine oder andere auslassen. Doch das, was sich gut und richtig anfühlt, darf in mein Leben kommen, vielleicht auch bleiben. Ich freue mich ungemein auf das neue Jahr, all seine Abenteuer und Erkenntnisse. Ab dem 12. Januar 2023 teile ich sie wieder mit Ihnen und wünsche bis dahin geruhsame Tage, entspannte Begegnungen und viel Zuversicht für die folgenden Monate.

FREITAG: Rocken unter dem Christbaum

Momentan habe ich wieder das Bedürfnis, jeden Morgen eine Tarotkarte zu ziehen. Sie ist für mich ein kleiner Kompass, damit ich mich während des Tages nicht zu sehr zerstreue.

Heute in der Früh habe ich „Die Liebenden“ gezogen. Doch ganz im Gegensatz zu den traditionellen Decks ist auf meiner Karte eine Frau abgebildet, die sich im Spiegel betrachtet. Das passt sehr gut zu dem Thema, das mich aktuell mehr als alles umtreibt, nämlich die Selbstliebe. Und das hat jetzt nichts damit zu tun, dass frau egoistisch wird und die natürliche Verbundenheit außen vor lässt. Sondern eher damit, dass es gerade in Zeiten wie diesen mehr denn je wichtig ist, die eigenen Bedürfnisse anzuschauen.

Wenn ich mir mein persönliches Leben aktuell anschaue, läuft da einiges aus dem Ruder. Nicht dass mich das in diesem Jahr wundern würde! Seit Jahren stelle ich fest, dass mit zunehmendem Alter auch die Inhalte zunehmen. Ganz kann ich mir das nicht erklären, weil ich mir ja vor einiger Zeit vorgenommen habe, mich nur mehr für fünf Themengebiete zu interessieren. Und auch stets versuche, meinen Alltag inklusive Kleiderschrank zu entrümpeln. Inzwischen habe ich sieben Säcke verschenkt, damit mein Liebster wenigstens einen Platz hat, wo er nach seiner Ankunft in wenigen Tagen seine Hemden aufhängen kann. Ich habe mir auch eingetragen, dass ich in der Woche davor mein Leben runterschrauben möchte, damit ich nicht völlig hysterisch und abgerackert am Flughafen stehe und ihm aus Erschöpfung und nicht aus Freude um den Hals falle. Ersteres ist jetzt trotzdem wahrscheinlicher als letzteres, weil mich dieses ohnehin schon übervolle Jahr noch einmal dazu auffordert, Strukturen zu schaffen.

Jetzt kann ich das ziemlich gut, weil ich in mir selbst eine ziemlich gute Struktur habe. Das bedeutet, ich weiß relativ genau, wenn etwas unlogisch oder ineffizient läuft. Und mir wird auch in ähnlicher Geschwindigkeit klar, wo der Hebel anzusetzen ist. Vor Jahren hat mir ein Arbeitskollege das Bewusstsein dafür gegeben, dass man das gerne macht, was man gut kann. Geschenkt. Doch vor Weihnachten? Muss sich immer alles rund um das Christkind zusammenschieben? Offensichtlich. Insofern stehe ich also mitten im Struktur- und Optimierungskampf und möchte mich eigentlich – und das kommt selten vor – nur auf das Putzen der Toiletten oder das Entfernen der Spinnweben konzentrieren. Weil ich dabei nicht denken muss, nichts überlegen muss, nichts organisieren muss.

Der Spiegel, in den ich dabei schaue, würde mir ein entspanntes Gesicht zeigen, nach dem ich mich sehne. Ungefähr genauso wie nach meinem Liebsten, aber ein paar Tage bleiben mir ja noch. Um zu meditieren. Um mein Schicksal anzunehmen. Um einen Plan umzusetzen, der mir sinnvoll erscheint. Also auf die Dauer. Und weil ich mich selbst wirklich liebe, tue ich mir am Ende des Tages auch diese Arbeit an. Denn wenn ich die Wahl habe zwischen dauerhaftem Quälen und kurzfristigem Durchbeißen – meine Zähne lassen grüßen -, wähle ich auf jeden Fall die „Augen zu und durch“-Variante. Um dann in Frieden mit den Kindern und unserer erweiterten Patchwork-Familie unter dem Christbaum „Kling Glöckchen klingelingeling“ zu rocken. Dass sie das eingeführt haben, weil ihnen die traditionelle Singweise zu langweilig erschien, wird auch in diesem Jahr ein Segen sein. Denn bei der Rock-Version kann man so richtig alles rausschreien. Und danach liegen wir uns in den Armen. So soll es sein, jedes Jahr aufs Neue.

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FREITAG: Die blinde Kuh auf dem Regenbogen

Wenn man im Zug sitzt und unendlich froh ist, dass man nicht mehr wegen eines Streiks feststeckt, stellt sich der Grad von Entspannung ein, der einer das Hören eines Audiobuchs ermöglicht. Ich habe ein königliches ausgewählt.

Es gibt aktuell ja viele Themen, mit denen man und frau sich beschäftigen könnten, um sich die Weihnachtsstimmung zu vermiesen: Blackout, Umweltschutz, Streiks, das Wetter. Die Liste ließe sich gewiss unendlich fortsetzen, wenn ich denn das wollen würde. Doch mir fehlt dafür die Zeit, auch die Lust und generell der Sinn. In diesem Mindset bin ich immer, wenn ich aus der großen Stadt zurückkommen, nachdem ich mir reingezogen habe, was andere Menschen so umtreibt. Und bei einem Mittagessen quasi zwischen Hauptspeise und Dessert serviert zu bekommen, dass der Blackout im kommenden Januar oder Februar für ein paar Stunden über uns hereinbrechen wird und es dann zwei Wochen dauern könnte, bis alles wieder läuft, verdirbt sogar mir den Appetit. Und ich esse gerne.

Während ich auf der Liege meines Physiotherapeuten versuchte, den Schmerz wegzulächeln, sagt er etwas sehr gescheites, nämlich dass er sich abgewöhnt hat, sich über Dinge den Kopf zu zerbrechen, die er nicht beeinflussen kann. Und da tat es mir zwischen den Schulterblättern gleich ein wenig weniger weh. Denn genau so ist es. In der großen Stadt verdirbt man sich die Laune wegen des schwarzen Damokles-Schwertes und lässt es bei der Weihnachtsbeleuchtung krachen, als gäbe es kein Morgen. Und natürlich muss ich mich auch selbst beim Schopf packen, wenn ich bei einem Kaffee unter einem Heizschwammerl sitze, nur weil ich eine rauchen will. Jetzt könnte man ja sagen, dass es die Heizschwammerln gar nicht bräuchte, ließe man die Raucher im Warmen rauchen, doch damit öffne ich ein anderes Fass, das ich lieber geschlossen halten möchte. Worauf ich hinaus will: Alles ist mit allem verbunden. Und wenn wir da etwas zerschneiden, gerät auch der Rest aus der Balance.

Mein Liebster und ich denken uns einen Regenbogen zwischen den beiden Orten, an denen wir leben. Dieses Bild erinnert uns stets daran, dass wir auch aufgrund der großen Distanz verbunden sind. Wenn ich aus der Balance bin, spürt er das. Und wenn es ihm schlecht geht, ist mein Wohlbefinden ebenfalls beeinträchtigt. Auf einer größeren Bühne heißt das in meiner Welt nichts anderes als: Frauen und Männer bedingen sich gegenseitig. Nur damit ich es an dieser Stelle einmal sage: Ich bin eine Cis-Frau, und meine Schreibperspektive ist dem angepasst. Aus diesem Grund bin ich überzeugt, dass in dieser Cis-Welt beide Geschlechter tunlichst darauf achten sollten, sich zu achten.

Das Hörbuch, das ich mir im Zug reingezogen habe, beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Rollen von Mann und Frau. Es erzählt davon, dass Frauen ihre Weiblichkeit und Männer ihre Männlichkeit verloren haben. Und dass viele nicht einmal mehr wissen, wie sie die jeweilige Identität zurückgewinnen können. Zugegeben: Man und frau sehen sich einem enormen Pool an Informationen, Workshops und Gruppen ausgesetzt, wo man das lernen könnte. Doch dafür muss erst einmal eine Entscheidung getroffen werden. Nicht nur, ob Frau einen Göttinnen-Workshop besuchen oder Mann einer Bruderschaft beitreten möchte, sondern vor allem, ob sich beide Geschlechter überhaupt mit diesem Thema auseinandersetzen wollen.

Unsere Welt braucht beide Energien, das Empfängliche und das Zielstrebige. Mein Leitspruch, wenn es um Beziehungen geht, lautete stets, und das auch während meiner Single-Jahre: „Die Frau führt den Mann zur Quelle, und der Mann sorgt dafür, dass sie das tun kann.“ Es geht um Vertrauen und Wohlwollen, um Sicherheit und Geborgenheit, um Liebe. Wenn Mann und Frau stets auf der Hut voreinander sein müssen, geraten beide in Verteidigungshaltungen, und das wiederum führt früher oder später in die äußere und innere Vereinzelung. Das Buch erzählt davon, wie sich die Geschlechter annähern können, indem sie sich auf ihre Qualitäten konzentrieren und das Beste aus beiden Welten zu einem Paket schnüren. Das wiederum kann nur funktionieren, wenn dem jeweils anderen Menschen diese Qualitäten auch zugestanden werden. Darin sehe ich im aktuellen interhumanen Miteinander das größte Problem. Wenn eine Frau beispielsweise handwerklich begabt ist, muss der Mann sich nicht plagen, nur weil er glaubt, dass es seine Aufgabe wäre. Wenn eine Frau Kurkuma und Kümmel nicht auseinander halten kann, darf der Mann seinen Kochkünsten frönen. So what? Wir können in all unseren Beziehungen so viel Gutes in die Waagschale werfen, dass die Zufriedenheit groß sein könnte. Und vielleicht auch das Potenzial hat, ins Glückliche aufzusteigen. Darauf sollten wir uns fokussieren, weil wir genau das auch wirklich persönlich beeinflussen können. Und sollte der Strom tatsächlich ausfallen, können Frau und Mann dann auch unbeschwert und ausgelassen „Blinde Kuh“ spielen – vielleicht sogar mit Extras.

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FREITAG: Fußball-Philosophie

Für meine Mutter ist Katar ja ein Vergnügungspark für Menschen, die ihren Anstand mit Gürteln der besonderen Art bestücken. Und die Welt echauffiert sich aktuell tatsächlich auch über ein „Kleidungsstück“ für die Liebe.

Doha ist für mich vor allem eines: eine Drehscheibe des internationalen Flugverkehrs. In zweiter Linie liebte ich den gelben Riesenbären, bevor ich herausfand, dass er 6,8 Millionen Dollar wert, 18 Tonnen schwer und sieben Meter hoch ist. Dass sich eine Königsfamilie solch ein Spielzeug leistet, mit dem sie noch nicht einmal spielt, halte ich für äußerst fragwürdig. In dritter Linie verbinde ich mit diesem Flughafen Raucherlounges, in denen man noch nicht einmal eine Zigarette anzünden muss, um nach einem mehrstündigen Flug ohnmächtig zu werden. So modern der Airport auch sein mag: An der Belüftung dieser Nebelboxen sollte die Königsfamilie noch arbeiten. Ganz bestimmt gibt es die auch in Gold.

Meiner Mutter ist dieser Flughafen höchst suspekt, weil sie ihren Informationsquellen terroristische Gefährdung entnommen hat, vor allem für mich, als ich zwischen Goldbär und Goldbelüftung hin und her taumelte. Ich wiederum habe mir stets überlegt, warum diese unanständigen Menschen, selbst wenn sie ihre Trainingslager vor den Flügeltüren der Luftdrehscheibe hätten, ausgerechnet dieses Trainingslager in die Luft jagen sollten. Doch zu einer ultimativen Einschätzung bin ich nie gekommen, weil ich meist zum nächsten Flug musste und es mich viel mehr stresste, dass das WLAN nicht funktionierte.

Inzwischen dürfte das repariert sein, denn schließlich rollt in Katar aktuell der Ball. Der internationale Ball. Und meinen Informationsquellen entnehme ich, dass das im Grunde ziemlich pfui ist. Ich bin ja eigentlich eine Turnierzuseherin und habe heftige Fussball-Phasen hinter mir, besonders als mein Jüngster auf einer Welle mit mir schwamm. Er tobt sich aktuell in Marokko auf denselben aus, während ich gegen die Kältewelle kämpfe. So ändern sich die Zeiten. Für mich ist die Kältewelle ja genauso pfui, aber auf eine andere Art und Weise. Doch das wird in absehbarer Zeit anders, und bis dahin beiße ich die Zähne zusammen.

Pfui ist das Kicken in Katar vor allem deshalb, weil Tausende Menschen offenbar beim Bau diverser Einrichtungen ums Leben gekommen sind. Weil man in Katar Homosexualität als geistigen Schaden bezeichnet. Weil Frauen nicht einmal annähernd die gleichen Rechte wie Männer haben. Weil viel zu viel Energie für das Kühlen der Stadien verschwendet wird. Gut, das mit den Toten konnte man im Vorhinein nicht überblicken, doch den Rest? Seit 2010 weiß die Fußball-Welt, dass man in Katar das Runde im Eckigen haben will. Und nicht nur dort, denn schließlich mussten die Scheichs ja jemanden bei der FIFA „überzeugen“. Katar gar nicht zur Bewerbung zuzulassen, ist wohl keine Option gewesen in der Welt, wo nicht nur der Rubel rollt.

Während einige in meinem sozialen Umfeld gar nichts dabei finden und sich daran delektieren, dass endlich einmal eine Fußball-WM ohne betrunkene Fans stattfindet, sind andere ganz strikt. Und das entspricht wohl auch dem Zeitgeist, wo statt Fußballschauen Fußballspielen bevorzugt wird, weil das ja auch im Trend liegt. Zumindest in Österreich. Da scheint es jetzt nach zehn Jahren endlich möglich zu werden, in der Schule eine tägliche Bewegungseinheit einzuführen. Offenbar mahlen nicht nur in der FIFA-Welt, sondern auch hierzulande die Mühlen langsam. Hauptsache, man schwärmt virtuell nach einer „One Love“-Binde aus, die zwar nur ein kleines Zeichen am Arm eines Torhüters gewesen wäre, doch immerhin eine so große Bedrohung, dass man sie verbieten muss. Wir haben wirklich keine anderen Probleme, wie mir scheint. Und auch keine anderen Dinge, an denen wir uns aufrichten könnten.

Ich habe mich entschieden, dem Fernseh-Fußball fernzubleiben. Wenn ich ein Ergebnis oder Ereignis wissen soll, wird das Universum schon dafür sorgen, dass ich es erfahre. Faszinierend finde ich trotzdem, in welcher Form es uns immer wieder auf die verschlungendsten Wege führt, damit wir unsere ethische Einstellungen überprüfen können. Ich sag’s ja immer: Philosophien, Konzepte und Weltanschauungen müssen erst den Alltag überstehen. Doch haben sie den Härtetest überstanden, können sie sehr kraftvoll sein. Darüber könnten wir nachdenken – vielleicht sogar während eines Fußballspiels.

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FREITAG: Ganz Ohr für Gefühle

Große Ohrringe stehen für ein Übermaß an Gefühl. Diese Erkenntnis durfte ich kürzlich gewinnen. Fotos von mir bestätigen das, doch kann man daraus eine Regel machen?

Ich erinnere mich noch an Zeiten in meinem Leben, wo ich explizit Kleines in meine Ohren gesteckt hatte. Da war ich pubertär und schon froh, dass ich mir überhaupt Löcher in die Läppchen stechen lassen durfte. Mein späterer Wunsch, dem einen noch ein zweites hinzufügen zu wollen, wurde aus abstrusen Gründen abschlägig beschieden. Leider war ich diesem Erlass ausgeliefert, mein Erwachsenen-Ich brauchte die Doppel-Durchlöcherung nicht mehr.

Später wurden die Ohrgehänge größer. Ich glaube ja, dass man in größere Ohrringe genauso hineinwachsen muss wie in Lippenstift. Zu früh wirkt er einfach unnatürlich, obwohl ich auch dazu sagen muss: Rote Lippen sind immer ein Hingucker und retten am Outfit vieles, was mit anderen Mitteln so schnell nicht zu leisten ist. In meinem Regal steht immer noch das Buch mit dem Titel „Ein Hauch von Lippenstift für die Würde“, und ich freue mich schon darauf, es zu lesen.

Ich liebe Ohrgehänge, weil ich finde, dass sie einer Frau einen Hauch von Grazie verleihen. Denn frau sollte sich tunlichst gerade halten, wenn es an ihren Ohren pempelt, da sie sonst Gefahr läuft, die Balance zu verlieren. Und wenn man Grazie aus Sicht der Gefühle betrachtet, ist es tatsächlich so, dass ein Gefühl dahinter steckt: das Gefühl einer Königin. Im Laufe der Jahre habe ich unzählige Paare Ohrhänger gesammelt, auf der ganzen Welt. Und sie in Säckchen gehütet, um sie an einem speziellen Tag in der Zukunft rauszuholen. Irgendwann fielen mir Parallelen zum Sonntagsgewand auf, und ich beschloss, jeden Tag zu einem Sonntag zu machen.

Alle Farben, alle Formen – ich fühlte mich wie in einem Zuckerlgeschäft. Und das Gefühl des Überflusses konnte ich nicht leugnen. Aus dem Vollen schöpfen zu können, ist eine wunderbare Erkenntnis, was übrigens auch auf Lippenstift zutrifft. Nicht dass ich mir teure Ohrhänger gekauft hätte – die wirklichen Preziosen halten sich in Grenzen. Meist waren es preisgünstige Exemplare, die mir Freude schenkten und die Königin in mir ans alltägliche Licht holten.

Und dann entdeckte mein kleiner Nachbar die Ohrringe, die ihm so nahe waren, sobald er sich auf meinem Arm eingerichtet hatte. Und weil man als kleiner Mensch stets auf der Suche nach haptischen Erfahrungen ist, zog er einfach daran. Immer wieder. Nicht dass es geschmerzt hätte – ich fand das damals sogar ziemlich drollig, weil ich ja wusste, dass sie verführerisch waren. Doch irgendwann einmal stellte ich fest, dass sich meine Ohrlöcher doch über Gebühr geweitet hatten und meine Stecker einfach durchrutschten. Ich überlegte mir, ob ich diesen Zustand operativ verändern sollte, hatte sogar schon einen Termin bei einem plastischen Chirurgen. Schließlich wollte ich mich von dem Gefühl der Königin sprich der Fülle nicht trennen, das mir die Ohrgehänge geschenkt hatten.

Dank der Lockdowns durfte ich diese Entscheidung noch einmal überdenken. Wie lächerlich, sich seine Ohrlöcher zunähen und neu durchstechen zu lassen, während Menschen im selben Krankenhaus um ihr Leben kämpften! Doch darüber hinaus hatte ich mehrere Feststellungen gemacht: Erstens gab es leichte Ohrgehänge, zweitens brauchte ich keine äußeren Symbole mehr für meine innere Königin. Ich fühlte mich auch in meiner Kraft, wenn kleine Buddhas oder Monde an meinen Ohrläppchen baumelten. Und gleichzeitig schonte ich damit das Gewebe, das zugegebenermaßen einiges hatte aushalten müssen. Offenbar war ich gefühlsmäßig in meiner Mitte angekommen.

Als ich dieses Thema kürzlich mit einer Freundin besprach, fiel mir ein Foto aus dem heurigen Sommer ein. Ich war in den Armen meines Liebsten und trug die größten Ohrringe, die ich jemals besessen habe. Die Ohrläppchen hielten durch, doch vermutlich nur deshalb, weil die Kraft der Liebe auch deren Gewebe gestützt hat. Ausnützen wollte ich das nicht, auch deshalb, weil mir eines klar wurde: Wenn große Ohrringe für Emotionalität stehen und ich es inzwischen aushalte, auch „kleinere Brötchen“ zu backen, kann das nur bedeuten, dass ich gelernt habe, zwischen großen und weniger großen Emotionen zu unterscheiden. Das Leben ist eben nicht immer das ganz große Kino, und das kann manchmal auch sehr entspannend sein.

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FREITAG: Körperkult? Kann ich!

Bislang habe ich ja mit kaum merklich angehobenem rechten Mundwinkel auf das Thema „Körperkult“ reagiert. Dass ich damit einer Verallgemeinerung aufgesessen bin, durfte ich heute lernen.

Körperkult-Anhänger und -innen waren für mich bislang Menschen, die in den Muckibuden an der Ausformung ihrer jeweiligen Muskeln gearbeitet haben, dabei glänzende, wahlweise schwitzende Haut zeigten und vor Kraft kaum mehr gehen konnten. Dass ich damit auch das Vorurteil kultiviert habe, dass man dafür nicht unbedingt eine weit gespannte Intelligenz braucht, habe ich an dieser Stelle zähneknirschend zu gestehen. Doch wie immer, wenn ich etwas nicht kommen sehe, schlägt es mir auf die Schulter und macht auf sich aufmerksam.

Heute morgen in Form eines Radiobeitrags. Ja, Radio höre ich noch, wenn auch sehr selektiv und meist zeitversetzt, damit ich meinem Gehirn nur Dinge zumute, die ich auch verkraften kann. Und aus irgendeinem Grund habe ich heute auf das Angebot „Körperkult als Ersatzreligion“ geklickt. Religion und Spiritualität zählen ja zu meinen Top Fünf-Themen, auch wenn sie in Verbindung mit Körperkult gebracht wird. In diesem Fall bin ich dem Narrativ „Wer A sagt, muss auch B sagen“ gefolgt und habe Unangenehmes, wenn auch nicht Unakzeptables über mich herausgefunden.

Offenbar gibt es drei Unterkategorien beim Körperkult: Styling, Tuning und Caring. Bei ersterem geht es um Selbstgestaltung. Und dazu zählt eben auch, wenn ich mir die Fußnägel lackiere oder Lippenstift auftrage. Ich musste auch zugeben, dass ich Körpertuning betreibe, in dem ich zum Bauchtanzen gehe und Yoga mache. Und last but not least: Unter ‚Caring‘ fällt meine ayurvedische Ernährung und Meditationen jeglicher Art. Und bei all dem bin ich in meiner Welt meilenweit von dem Bild entfernt, das ich abschätzig bewertet hatte.

Gerne sehe ich mich selbst als überaus toleranten Menschen an, der anderen all das verzeiht, was sie manchmal nicht einmal sich selbst verzeihen. Weil ich weiß, dass wir alle Menschen sind und Fehler machen können. Doch gerade in Situationen wie dem Körperkult-Vorurteil fällt es mir wirklich schwer, mir selbst Vorurteile zu vergeben. Weil ich ja zuerst den Schritt machen muss, sie mir und gegebenenfalls auch gegenüber anderen einzugestehen. Und vor diese Aufgabe werde ich immer dann gestellt, wenn ich sie gerade gar nicht brauchen kann, weil mir eh schon der Kopf platzt.

Jetzt könnte man einwenden, dass man ja nicht jede Einladung zur Reflexion annehmen muss. Richtig. Und doch hänge ich ja der Meinung an, dass Einladungen selten angekündigt daher kommen. Und dabei spreche ich nicht von solchen zu Hochzeiten, die man ja zugegebenermaßen einige Zeit im Voraus planen muss. Auch nicht von runden Geburtstags- oder Pensionsantrittspartys. Sondern von jenen, die uns das Universum über den Weg schickt, um uns in die Gegenwart zu bringen. Und gerade deshalb, weil mir das Universum heute die Erkenntnis geschenkt hat, dass ich durchaus Körperkult-Neigungen habe, werde ich mir in den nächsten Tagen endlich einen Termin beim Friseur ausmachen – der wartet nämlich schon seit Mai auf den jährlichen Zweittermin. Übertrieben ist er nicht, mein Körperkult.

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FREITAG: Mann, rede!

Ich fühle mich wirklich geehrt, dass ich so viele sprechende Männer um mich habe – Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel. Und diese Regel ist vor allem aus gesundheitlichen Gründen wichtig.

Ich erinnere mich noch sehr genau, als mir die Mutter meiner Kinder gestand, dass der Älteste – damals im Pubertätsalter – im Grunde in einer Höhle leben und kaum sprechen würde. Und ich konnte keinerlei Verbindung zu dem jungen Mann herstellen, der regelmäßig und streckenweise überbordend seine Gedanken und in zunehmendem Maße auch seine Gefühle mit mir teilte. Und das wiederholte sich auch ein paar Jahre später mit seinem jüngsten Bruder. Bis heute sind die beiden sehr offen in ihrer Kommunikation, auch wenn der „Kleine“ während der letzten Jahre manchmal darüber klagte, dass er seine Ausdrucksfähigkeit verloren hätte. Das hatte andere Gründe, und auf die will ich heute hinaus.

In meiner morgendlichen Lektüre ging es heute um Sümpfe und Felsen. Sümpfe sind laut Chuck Spezzano jene Menschen, die tief in ihrer Emotionalität stecken und daraus auch ihre Kommunikationsfähigkeit speisen. Felsen hingegen sind solide, aber eben halt auch nicht ganz so gesprächig. In seltenen Fälle und bei ernsthafter Motivation kann man auch diese Felsen zum Sprechen bringen und ihnen signalisieren, dass sie gehört und verstanden werden. Nimmt ein Sumpf-Mensch das, was da kommt, allerdings persönlich, kann der Fels sehr schnell wieder in sein Schweigen zurückfallen und seine Sprechmotivation dauerhaft verlieren.

Ich habe es immer schon als sinnvoll erachtet, Angehörige des männlichen Geschlechts zum Reden zu bringen. Schon alleine, dass Männer nicht darüber sprechen, wenn sie gesundheitliche Mängel haben, führt dazu, dass ihre Lebenserwartung geringer ist als jene von uns Frauen. Und das alles offenbar aus falsch verstandener Stärke heraus. Dabei werden wir ja von manchen Männern als das „eigentlich starke“ Geschlecht bezeichnet, weil wir über das sprechen können, was uns bewegt. Und dadurch Verbundenheit herstellen können, die uns dazu bringt, auf uns zu achten. Nichtsdestotrotz: Es wird langsam mit den sprechenden Männern, doch es könnte schneller gehen. Andererseits hat jeder seine eigene Geschwindigkeit auf dem Lernweg. Geschenkt.

Nicht immer ist es mir persönlich gelungen, die Sumpfmomente in Gesprächen mit Felsen zu vermeiden. Doch sie werden wenig, nämlich mit der inneren Haltung, dass es für jeden Menschen wichtig ist, sich Belastendes von der Seele zu reden. Und nachdem ich vor geraumer Zeit beschlossen habe, in einem Mann vor allem den Menschen zu sehen, tauche ich mit Freude in die Gedanken- und Gefühlswelt von Männern ein. Und vielfach erlebe ich dadurch den Werdegang von Frustration und Resignation, weil das Gegenüber eben auf diesem Lernweg unangemessen reagiert hat. Aussagen persönlich nehmen musste, interpretiert hat, Worte im Mund umdrehen wollte. Und das bringt einen tatsächlich in die Entscheidungssituation, dass man sich überlegt, ob man reden oder schweigen sollte.

Ein Mann in meinem Leben tut das explizit, vor allem weil er die Konsequenzen fürchtet, wenn er den Mund aufmacht und seine Meinung kundtut. Er ist ziemlich harmoniebedürftig und sieht jedes Gespräch mit unterschiedlichen Standpunkten als Diskussion, der er fernbleiben möchte – sogar als Zuhörer. Seine Gesundheit ist nicht die beste. Ein anderer Mann hingegen nimmt jede Gelegenheit wahr, die sich zwischen ihm und mir bietet, um endlich sein Seelenleben vor mir ausbreiten zu dürfen. Da er laut denkt, sind das meist Monologe, auf die ich mich aber über die Jahre eingerichtet habe und mich einfach darauf fokussiere, durch Zuhören zu heilen. Das gelingt gut, und dieser Mann ist gesund. Ein dritter Mann hat erst kürzlich durch mich gelernt, dass seine Gefühle und Gedanken bei mir gut aufgehoben sind. Dass ich ihn und seine Welt im Gespräch sein lasse und durch Fragen einen Raum öffne, wo er neue Erkenntnisse über sich selbst gewinnen kann. Das macht ihn glücklich, und sein Glück springt auf mich über.

Ich bin davon überzeugt, dass wir durch Zuhören – wie schon in der letzten Woche an dieser Stelle erwähnt – vieles zum Besseren verändern können. Und dass das richtige Zuhören vor allem Männer dazu bringt, weibliche und maskuline Energien in sich auszubalancieren. Davon profitieren nicht nur sie, sondern auch der Rest der Menschheit – unabhängig von Gender, Nationalität oder Mentalität. Es ist ein kleiner, aber effektiver Schritt, um den Frieden zwischen den Menschen herzustellen und vor allem einer, den wir alle gehen können.

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FREITAG: Altern ist eine Entscheidung

In dieser Woche habe ich einen Artikel über das Altern recherchiert. Da kann man mit voll50 gar nicht anders, als sein eigenes Alter auf den Prüfstand zu stellen.

Krafttraining, Ernährung, soziale Kontakte und Optimismus – das sind im Großen und Ganzen die Ingredienzien für das Altern in angenehmer Art und Weise. Und was so einfach Schwarz auf Weiß zu schreiben ist, kann manchmal ganz schön schwer sein. Dann nämlich wenn man sich überwinden muss, mit Hanteln zu üben, wenn man sein Leben lang kein Bewusstsein für Fitness hatte, sondern nur ans Arbeiten gedacht hat. Auch das Essen kann zu einer Herausforderung werden, wenn der Hunger schwindet und die Geschmacksknospen das Blühen sukzessive einstellen. Den Freundeskreis an einem vorbei schrumpfen zu sehen, lässt auch die Bereitschaft sinken, neue Kontakte zu suchen, und das mit dem Optimismus? Wer das Leben vom Ende her denkt, scheint sich selbst nicht mehr die Zeit dafür zu gestatten.

Jetzt kann ja tatsächlich alles schlecht sein. Die Gesundheit, das Essen, die Freundschaften und das allgemeine Gefühl fürs Dasein. Doch das muss es nicht. Ich bin überzeugt, dass auch Altern eine Frage der Einstellung ist. Mein Vater sagt immer: „Wenn Du mit 50 aufwachst und Dir nichts weh tut, bist Du tot.“ Insofern freue ich mich tatsächlich, wenn mir mein Körper Zeichen gibt, dass ich noch am Leben bin. Und es sportlich nehme, wenn ich eben in der Früh nicht mehr sportlich aus dem Bett springe. Wobei: Habe ich das jemals getan? So leidenschaftlich ich lebe und so ausdauernd mein Tag sein kann – am Morgen aufgestanden bin ich noch nie gerne. Doch watt mutt, datt mutt. Und so checke ich gleich nach dem Aufschlagen meiner Augen, welcher Teil des Körpers mit mir gerade reden möchte und ein besonders freundliches „Guten Morgen“ verdient. Und eine Yogaeinheit.

Mit meiner aktuellen Sinusitis kann ich gerade gut nachvollziehen, wenn einer der Sinne ausfällt. Und mir fehlt es, mich über meinen Kochtopf zu lehnen und die Gewürze zu riechen, die vor sich hin brodeln. Doch dass ich deshalb mit dem Essen aufhören würde? Niemals. Eine meiner wichtigsten Erkenntnisse über die Nahrungsaufnahme ist, für den Körper und nicht alleine für den Gaumen zu essen. Dadurch habe ich mir bewusst gemacht, dass das zwei verschiedene Dinge sein können. Und es hat mein Bewusstsein dafür geschärft, auf meinen Körper zu hören, selbst wenn der Gaumen laut nach einer Leberkässemmel schreit. Dreimal im Jahr bekommt er sie, doch nicht öfter. Weil es nämlich eine vernünftige Entscheidung ist, auch den Rest der sterblichen Hülle zufriedenzustellen.

Mein Großvater war gesellschaftlich gesehen ein Hansdampf in allen Gassen. Ich erinnere mich noch, dass ich mich schon als Kind gewundert hatte, wie viele Menschen er auf der Straße begrüßt und mit ihnen geplauscht hat. Er war in verschiedensten Institutionen, Vereinen und Clubs vernetzt, was ihn unter die Leute und damit auch mit verschiedenen Generationen in Kontakt brachte. Der Austausch hielt ihn jung, weit über das 80. Lebensjahr hinaus. Doch als er mit 94 Jahren starb, hatte er tatsächlich den Faden verloren, auch weil sich die Zeit zu schnell veränderte. Und das hat in den vergangenen 20 Jahren weiter an Tempo aufgenommen. Soziale Kontakte zu pflegen, wenn sich oft schon junge Generationen maßgeblich voneinander unterscheiden, ist tatsächlich eine Herausforderung. Ich stelle in meinem Leben fest, dass sich mein soziales Umfeld in den letzten Jahren tatsächlich hin zu meiner eigenen Altersgruppe verändert hat, doch glücklicherweise nicht ausschließlich. Ich genieße wie mein Großvater die Impulse von jüngeren Menschen, weil sie mich in die aktuelle Zeitqualität hineinziehen und mir verdeutlichen, was gerade gebraucht wird. Und das ist vor allem eines: zuhören. Wenn jede und jeder verzweifelt versucht, sich Gehör zu verschaffen, um sich wahrgenommen zu fühlen, kann ich gerne zuhören und damit Seelen befrieden. Meine proaktive Lösungsorientierung schwindet, ist aber auf Anfrage abrufbar. Das erleichtert mein Dasein ungemein, öffnet mich und lässt mich Menschen unvoreingenommener begegnen. Mit dieser Eigenschaft ausgestattet, bin ich ziemlich sicher, dass mein Leben kein einsames werden wird, auch nicht im hohen Alter.

Und an Optimismus mangelt es mir ohnehin nicht. Ich kann beinahe jeder Situation etwas Gutes abgewinnen. Woher das kommt, weiß ich nicht, doch ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass das ziemlich nervig sein kann. Ich erinnere mich an eine Beziehungskrise vor einigen Jahrzehnten, die daraus entstanden ist, weil ich zu jeder negativen Situation meines damaligen Freundes immer eine positive Seite hinzufügen wollte, um seine Perspektive zu erweitern. Er wollte das nicht, hat es persönlich genommen und mir mangelnde Loyalität unterstellt. Dass ich an seinem Grab gestanden bin, war wohl der ultimative Beweis FÜR meine Loyalität. Aber wurscht. Natürlich ist mir bewusst, dass ich den Zenit meines Lebens insofern überschritten habe, dass hinter mir vermutlich mehr Jahre liegen als vor mir. Doch es sind immer noch Jahrzehnte, die ich mit Premieren füllen kann. Und das gedenke ich auch zu tun. Denn was sollte mich davon abhalten? Die Aussicht darauf, dass das am Ende sowieso nicht zählt, weil alles zu Ende ist? Ich bin mir da nicht so sicher, und ich bin ziemlich neugierig darauf.

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FREITAG: Frauen, steht auf für Euch selbst!

Für sich selbst einstehen, ist in meiner Welt eine ganz normale Angelegenheit. Doch dass man lieber seine Identität ändert anstatt das zu tun, hat mich in dieser Woche schwer beschäftigt.

Es war einer dieser wunderbaren Herbstnachmittage, an dem uns die Sonne an den Sommer und die Atmosphäre der Stadt an Italien erinnert. Ich hatte mich mit einer Freundin getroffen, eigentlich zu einer Outdoor-Veranstaltung. Da diese weniger prickelnd und das Mitteilungsbedürfnis größer als erwartet war, absentierten wir uns ab einem bestimmten Zeitpunkt und setzten uns in den Gastgarten eines Kaffeehauses. Während meine Kinder ja schon dabei sind, das Twen-Stadium zu verlassen, hängt meine Freundin noch in der Pubertät ihres Nachwuchses fest, mit allem, was heutzutage dazu gehört. Und das umfasst offenbar auch Freunde, die wie Burschen ausschauen, aber Mädchen sind und umgekehrt. Jetzt bin ich ja jemand, die dem Geschlecht grundsätzlich kaum Bedeutung zumisst, weil es für eine Begegnung nur minimal wichtig ist. Wenn ein Wesen mit Brüsten als „der Hans“ angesprochen werden möchte, bin ich zwar kurzfristig verwirrt, kann mich aber rasch einfinden. Man muss mir eben nur sagen, wie Mann/Frau/Divers es gerne hätte.

Meine Freundin und ich sind über 50, sind also in einer Zeit aufgewachsen, wo Diversität noch der Bürgerrechtsbewegung in den USA vorbehalten war und von der Affirmative Action, also der positiven Diskriminierung, in den ländlichen Gegenden unserer Pubertät nichts zu spüren war. Wir versuchten, uns in die Lage der heutigen Jugend zu versetzen und hinterfragten, ob wir mit dem heutigen Wissen vielleicht auch selbst entscheiden hätten wollen, ob wir trotz eindeutiger Sexualmerkmale lieber als Berti oder Klausi anzusprechen wären. Ich für meinen Teil hatte darauf eine eindeutige Antwort, meine Freundin weniger. Sie meinte, sie könnte verstehen, dass Mädchen es weniger attraktiv finden, für sich einzustehen als einfach das Geschlecht zu wechseln. Die Rede ist hier nicht vom tatsächlichen Akt einer Geschlechtsumwandlung (falls das heute noch so genannt wird), sondern davon, wie man in der öffentlichen Wahrnehmung eingeordnet wird.

Natürlich habe ich damals auch nicht meine Rundungen zu Markt getragen, weil ich mir ihrer gar nicht bewusst war. Ich wollte enge Jeans und weite Pullis, wahlweise von meinem Vater oder Großvater, tragen, mit weißen Turnschuhe durch die Gänge des Gymnasiums schlurfen und meine Haare wie Limahl tragen – allerdings ohne Zweifarbigkeit, weil meine Mutter das ablehnte. Doch das ist eine andere Geschichte. Ich kann mich nicht erinnern, je mein Geschlecht in Frage gestellt zu haben, weil mir das Frauenbild vor meinen Augen unangenehm oder unangebracht erschien. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass mir mein Vater stets vermittelt hat, dass ich alles erreichen kann, was ich will. Vielleicht waren es aber auch meine Mutter und meine Großmutter, die ihre Rollen gestalteten, wie es ihnen eben möglich war. Und mir durchaus selbstwirksam erschienen.

Wenn die Lockdown-Zeit den Mädchen ein Bild vermittelt hat, das Frauen zuhause ohne großes Zutun in Abläufe zurück katapultiert hat, wie wir sie in den 1950er Jahren hatten, läge es für mich nahe, es ALS FRAU anders zu machen. Und nicht mich gleich vom ganzen Geschlecht zu verabschieden, weil eh alles schlecht behandelt wird, was Kinder auf die Welt bringen kann. Wie meine Mutter meine gefärbten Haare abgelehnt hat, lehne ich es ab, mich als Opfer zu kategorisieren. Weder eines Mannes und schon gar nicht der Umstände. Ich bin als Frau stets die Kapitänin meines Schiffes, weil es an mir liegt, wie ich meine Umstände beurteile und einsortiere. Und für mich gibt es immer Luft nach oben.

Ich erinnere mich an eine Situation, wo ich die Nachfolge eines Mannes angetreten habe und mir völlig ungeniert weniger Gehalt angeboten wurde. Ich hätte die Stelle ablehnen können (was ich nicht wollte), doch ich hatte einen anderen Plan im Sinn. Nämlich den, meinem Arbeitgeber eine Sekretärin abzuringen, die sich um all den Kleinscheiss kümmerte, der meine Abläufe aufgehalten hatte. Gesagt, akzeptiert. In keiner Sekunde habe ich mich diskriminiert gefühlt, sondern stets in meiner Kraft. Und genau das würde ich immer wieder tun. Und auch jedem Mädchen raten, das sich persönlich diskriminiert fühlt. Denn es gibt stets einen Weg, zu sich selbst „Ja“ zu sagen, und es gibt immer Menschen, die eine dabei unterstützen. Gerade wir Frauen sind eine unglaubliche Kraft, die wir viel zu lange vernachlässigt haben, weil man uns lieber in der Stutenbissigkeit gesehen hat. Das muss aufhören, da muss Solidarität an Boden gewinnen. Und sie tut es bereits, was ein ganz unglaubliches Gefühl ist. Zu spüren, wie sich Weiblichkeit ausbreitet, Communities entstehen und durch den Austausch die Verbundenheit stärken, wünsche ich jeder jungen Frau. Wir sind mehr als die Hälfte der österreichischen Bevölkerung, machen wir etwas draus – im Idealfall etwas Konstruktives, Selbstwirksames, Kreatives!

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FREITAG: Zurücklehnen und zuschauen

Wer eine Reise tut, hat etwas zu erzählen. Meistens läuft das auf Erlebnisse der exotischen Art hinaus, doch auch die kleinen Beobachtungen schärfen die Wahrnehmung für die Welt im Großen und den Menschen im Kleinen.

Ich bin schon zu einer Zeit mit dem Flieger geflogen, als man noch Rauchersitze buchen konnte. Diese Klasse war immer die entspannteste, wenn auch am meisten umnebelte. Oder vielleicht gerade deshalb? Doch schon damals konnte ich nicht verstehen, warum es diese zwei Abteilungen gab, wo es doch keine Trennwand zwischen den Rauchern und Nicht-Rauchern gab. Auf jeden Fall beschwerte sich damals keiner der Nicht-Raucher, wenn Nebelschwaden in seine oder ihre Richtung waberte.

In Zeiten wie den heutigen sind die Probleme beim Fliegen ganz andere. Unfreundlichkeit zum Beispiel. Wenn man bei der Gepäckabgabe fast einen Fußtritt bekommt, weil man ein Lächeln anregt, tritt man eine Reise schon mit einem leichten Ärgergefühl an. Dass da die Lust auf eine Kabinen-Zigarette umso größer wird bei einer Raucherin, versteht sich von selbst. Andererseits: Nach über fünf Jahrzehnten auf dem Buckel weiß frau: Erstens bestraft sich der unfreundliche Einchecker selbst mit seinem grantigen Gesicht, und zweitens muss frau sich erst gar nicht von der schlechten Laune – wo auch immer sie her kommt – identifizieren geschweige denn infizieren. Doch was sie tun kann, um die Welt ein bisschen besser zu machen, ist, ein Mail an die Fluglinie zu schreiben und anzuregen, dass der Kundenkontakt doch zumindest von Menschen hergestellt werden sollte, die zu einem Lächeln fähig und willig sind. Die Fluglinie hat geantwortet, dass es wegen der außerordentlich hohen Eingangsmenge zu Verzögerungen bei der Beantwortung kommen kann. Offenbar hat die Fluglinie ein Customer Service Problem – am Boden und in der Luft.

In der Kabine werde ich Zeugin einer sehr skurrilen Rebellion gegen das Mobiliar. Während ich mich noch von den Abschiedsemotionen erholte, liefen auf der anderen Seite des Ganges die Emotionen hoch. Denn eine Gästin wollte partout nicht einsehen, dass es dem vor ihr sitzenden Passagier erlaubt sein sollte, seine Rückenlehne nach hinten zu kippen. Schließlich wollte sie ja essen und gemütlich sitzen und sich auch zurücklehnen. Was wiederum deren Rücksitzerin auf den Plan rief, die meinte, auch sie könnte sich unmöglich damit abfinden, dass sie durch die gekippte Rückenlehne weniger Platz als andere hätte.

Meine Sitznachbarin und ich – beide zwischen 50 und 60 – schauten uns an und brachen in fast hysterisches Gelächter aus. Miteinander haben wir bestimmt schon mehrfach den Globus umrundet, ich für meinen Teil fliege seit 40 Jahren. Doch dass ich mich jemals darüber beschwert hätte, dass Rückenlehnen kippbar sind und jemand das – oh Schande – auch noch in Anspruch nimmt, wäre mir im Leben nicht eingefallen. Wie gesagt: Wem das Rauchen untersagt wird, das er oder sie gewohnt war, kann verstellbare Lehnen locker wegstecken.

Und vor allem: Was macht das für einen Sinn? Wenn ich mir weder die Premium noch die Business Klasse leisten kann oder will, weiß ich schon vorher, dass es eng werden könnte. Da nehme ich halt in Kauf, dass die Reise im Luftbus während eines überschaubaren Zeitraums kein Aufenthalt in der Hollywood-Schaukel ist. Weil der Sinn dieses Luftbuses eben darin besteht, dass er mich von A nach B bringt. In einem Bodenbus kann ich mir ja auch nur bedingt die Sitzgarnitur oder Gesellschaft aussuchen.

Und während wir Voll50-Frauen gelassen aus dem Fenster schauen, denke ich mir, dass es ein Segen ist, unterscheiden zu können, wann sich Aufregung lohnt und wann frau es besser sein lässt. Nämlich dann, wenn sie keinerlei Einflussmöglichkeiten hat. Natürlich hätte ich mich vor den Schaltermitarbeiter hinstellen und solange herumhampeln können, bis ihm ein Lächeln entschlüpft wäre. Natürlich hätte ich mediationsmäßig in die Rückenlehendebatte eingreifen können, um die Situation zu entspannen. Doch am Ende des Tages lande ich immer wieder bei einem meiner Lieblingssprüche: „Karma is a bitch.“ Bedeutet: Wenn jemand etwas Falsches tut, ist es nicht meine Aufgabe, ihn zu korrigieren. Das übernimmt jemand anders. Wenn ich Glück habe, darf ich dabei sein, doch das ist nicht zwingend notwendig. Lieber bin ich dankbar für jene Gelegenheiten, die mir zeigen, dass ich mich langsam, aber sicher ziemlich locker machen kann, wenn andere ihre Unrundungen zu Markte tragen. Fast wie in einem Kuriositätenkabinett lehne ich mich zurück – ja, vielleicht sogar auf Kosten jenes Menschen, der hinter mir sitzt – und freue mich darüber, dass diese Welt keine anderen Probleme zu haben scheint. Und auch wenn ich anderer Meinung bin, geben mir kleine Begebenheiten dieser Art doch das Gefühl, dass das Große und Ganze in Ordnung sein muss. Zumindest für diese Menschen. Und das ist doch schon einmal ein Anfang.

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