FREITAG: Megatrend Achtsamkeit

Mein Ältester und ich sind unfreiwillige Trendsetter, haben wir gestern festgestellt. Denn bei einem Vortrag über Achtsamkeit kam zutage, dass das das einzige Rezept gegen die Vibes der heutigen Zeit ist. Wirklich wahr, oder?

Steintürmchen bauen, aufs Wasser schauen, Yogaübungen – so lauteten die Ergebnisse, als der Trendforscher Achtsamkeit in die Bildersuche des Internets eingegeben hatte. Alle mussten lachen, manche auch schelmisch – so ganz nach dem Motto: „Immer diese Realitätsverweigerer!“ Gut, das ist jetzt eine Interpretation, denn wenn das Thema uninteressant gewesen wäre, hätten sich nicht so viele Menschen um eine Vortragskarte bemüht.
Wir saßen in der zweiten Reihe, weil es mich seit geraumer Zeit wahnsinnig macht, wenn Menschen vor mir knistern und husten und schwatzen, während ich mich auf das Gesagte konzentrieren möchte. Da bin ich schon achtsam geworden für meine eigenen Bedürfnisse. Und während wir auf den Auftritt des Redners warteten, tauschten wir uns über Verschiedenes aus – vor allem, was sich in unserem Leben getan hatte. Und das sieht nicht etwa so aus, dass wir uns erzählen, was wir gearbeitet, erlebt oder „gemacht“, sondern welche Erkenntnisse wir seit unserem letzten Treffen gewonnen haben. Welche bewusstseinserweiternden Videos wir gesehen haben, welche Verknüpfungen wir zwischen den einzelnen herstellen konnten und wie wir das ins Leben integrieren wollen. Die Einführungsworte für die Veranstaltung haben diesen Fluss unterbrochen.
Was wir dann hörten, war interessant, aber für uns beide daily business. Dass unser aller Leben viel zu komplex geworden ist. Dass wir uns gar nicht mehr bei uns selbst einfinden können bei all dem „Schneller, Höher, Weiter“, das die heutige Zeit von uns verlangt. Dass wir hauptsächlich konsumieren, ohne uns darüber bewusst zu sein, ob und was wir eigentlich brauchen. Doch die Fragen, die im Anschluss gestellt wurden, zeigten uns, dass es bei diesem Thema tatsächlich Nachholbedarf gibt. Dass es wirklich Menschen gibt, die sich mit Achtsamkeit nur als Modewort beschäftigen und es bislang noch nicht mit Inhalt erfüllen konnten.
„Wir müssen unsere Zukunft entscheiden“, sagte der Trendforscher, und das hat meinen inneren Widerstand geweckt. Denn vor einiger Zeit habe ich mich durch die ersten Seiten des Buches „Die Weisheit des ungesicherten Lebens“ geplagt und nach den ersten Hindernissen eine für mich absolute Wahrheit gefunden: nämlich die, dass wir die Zukunft immer nur mit der Erfahrung der Vergangenheit betrachten können und insofern Vorhersagen wenig bis gar nichts bringen. Wie sollen wir also eine Entscheidung treffen, ohne die Parameter dafür zu kennen? Das hatte für mich wenig mit Achtsamkeit zu tun, sondern mit einem kurzen Egoflash. Denn nur der veranlasst uns dazu, uns Fähigkeiten herauszunehmen, die wir wirklich und wahrhaftig nicht besitzen.
Natürlich bin ich nicht ganz frei von dem Wunsch, wissen zu wollen, was die Zukunft bringt. Nicht umsonst lege ich bei Voll- und Neumond oder wenn neue Menschen in mein Leben kommen, gerne die Tarotkarten. Ich war auch schon einmal wegen eines Mannes bei der Astrologin – fragen Sie nicht, welche Auswirkungen das auf mein Dasein hatte! Doch gerade durch solche Erlebnisse wurde mir bewusst, dass es einfach nur mit Achtsamkeit geht. Im Moment sein, wahrnehmen, weitestgehend frei von Interpretationen bleiben und die eigenen Bedürfnisse respektieren. Nur so können wir dieser schnelllebigen Zeit etwas entgegenhalten, ohne total kirre zu werden. Mein Ego freute sich über den Trendsettergedanken, doch davon habe ich auf die Dauer gar nichts. Von dem Gefühl, im Augenblick glücklich zu sein, umso mehr. Dass ich viele solcher Augenblicke im Leben habe, macht mich dankbar. Und das wiederum mehrt das Glück. Insofern lebe ich die absolut positive Variante von der Katze, die sich in den Schwanz beißt. Meine liegt auf einem weißen Handtuch neben meinem Laptop und schnurrt.


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