FREITAG: Wandel in der Wildnis

Vor zwei Jahren bin ich an einer Schwelle gestanden, an der ich überlegt habe, ob ich meine wöchentlichen Ergüsse einstellen soll. Ich spürte, dass sich etwas in mir und meinem Leben änderte, ohne festmachen zu können, in welche Richtung es gehen könnte. In dieser Woche wurde ich mit den ersten Auswirkungen konfrontiert.

Es sei schwierig, mit mir Kontakt aufzunehmen. Angesichts der Tatsache, dass eine liebe Freundin von mir kürzlich noch nicht einmal meine Klingel gefunden hat, weil der wilde Wein kreuz und quer über die Mauer wuchert, wundert mich das grundsätzlich nicht. Und auch innerhalb dieser Mauer wächst vieles ungebremst vor sich hin. Ich habe meinen Rasen zur Wiese erklärt, die Farne sind so hoch wie mein kleiner, fast sechsjähriger Nachbar groß ist, Kiwi, Wein und Wisteria umschlingen sich wie Liebende. Die Goldfische im Teich sind groß und stark geworden, weil sie ganz viel schwimmen müssen, um zwischen den Wasserlinsen und Gräsern eine freie Stelle zum Luft schnappen zu finden. Sie sehen, ich lasse mich tatsächlich zuwachsen.

Das bedeutet aber nicht, dass ich schlecht ansprechbar bin. Denn die Wildnis hat es noch nicht geschafft, die Telekommunikation zu erwürgen. Zugegebenermaßen muss ich aber sagen, dass ich mit Texten in mündlicher und schriftlicher Form schon sehr selektiv geworden bin. Und das hat weniger mit den Menschen zu tun, die sich mit mir unterhalten wollen, sondern vielmehr mit meiner Reaktionswilligkeit. Auf zu viele Dramen bin ich in der Vergangenheit aufgesprungen, die sich im Nachhinein noch nicht einmal einen Sturm im Wasserglas verdient hätten. Ich habe meine Gehirnkapazitäten zu häufig in den Dringlichkeitsdienst von anderen gestellt und dann kaum mehr welche für mich und meine Belange übrig gehabt. Von der zur Verfügung stehenden Energie will ich gar nicht sprechen. Im Laufe der letzten zwei Jahre habe ich umgesetzt, was ich schon hundertmal gelesen hatte: Ich kann nur geben, wenn ich selbst ausreichend zur Verfügung habe – Zeit, Energie, Fokus. Doch auch hier gilt: Wenn ich die Not eines Menschen spüre, mache ich Ausnahmen. Doch spüren muss ich sie.

Zweiter Vorwurf: Ich hätte auf etwas Wichtiges nicht reagiert. Online. Obwohl ich selbst etwas gepostet hätte. Also online war. Ja, ich verstehe, dass man sich dadurch ignoriert fühlen kann. Und ja, es hat Zeiten gegeben, in denen ich noch während des Zähneputzens ein „Like“, Herz oder sonstiges Emoji abgesondert hätte. Doch die bittere Wahrheit aus diesen Zeiten war und ist: Mein Leben lebt sich nicht von alleine, während ich Gott und der Welt helfe, dieselbe wieder aufzubauen. Dass ich dafür mitunter grob behandelt wurde, hat mich die Sinnhaftigkeit doppelt in Frage stellen lassen. Jetzt muss man natürlich sagen, dass es unfair ist, Fehler eines Menschen einem anderen zuzuschreiben. Doch der Mensch agiert zu 95 Prozent im Automodus und nur zu fünf Prozent bewusst. Wenn das Leben voll ist, greift er schon einmal auf ungerechte Automatismen zurück, weil ihm die Zeit fehlt, eine Reaktion zu reflektieren. Ich gestehe: Da ist noch Luft nach oben, ich bin eben auch ein „work in progress“.

Es ist nicht so, dass ich bewusst Wichtiges im Leben von Menschen, die mir am Herzen liege, ignoriere. Ich habe nur in den vergangenen Jahren gelernt, mich auf wenige Dinge zu fokussieren. Und wenn ich merke, dass mein Kopf voll ist, versage ich mir auch ganz bewusst die eine oder andere Information. Ein Podcast kann noch so interessant sein – wenn ich spüre, dass ich schon zum dritten Mal „zurückspule“, schalte ich ihn ab. Wenn ich mich dabei erwische, in einem Artikel mehrmals zurückzulesen, kommt er auf den Haufen für später. Und da ich weiß, wie sehr ich in Instagram versinken kann, poste ich eine für mich erfreuliche Ansicht und bin schon wieder weg. Anders geht es nicht mehr mit meinem 55jährigen Hirn, das aufgrund der C-Zeit gemerkt hat, wie viel Ruhe es im Grunde braucht.

In meinem Beitrag vor zwei Jahren habe ich von der „Leere“-Karte geschrieben, die ich damals häufig aus meinem Tarotkarten-Stapel gezogen hatte. In Zeiten wie diesen ist es die „Ruhe“-Karte. Immer und immer wieder. Und ich weiß auch, warum ich sie immer wieder bekomme. Weil ich nämlich keine Ruhe geben möchte. Weil ich vieles möchte, vieles behirne, manches zu entscheiden habe. Und dann kommt wieder der Mensch, der auf dem Bett liegt. Ich kann mich jetzt dagegen wehren und gegen das Bedürfnis arbeiten, das ich sehr wohl spüre. Oder ich kann mich hingeben. Die Hängematte ausrollen, die Decke für die Katze über meinen Bauch legen und mich von ihrem Schnurren beruhigen lassen. Klingt wenig spektakulär, doch irgendwie ist es für mich spektakulär. Weil es mich in Staunen darüber versetzt, wie wenig ich eigentlich brauche, um zufrieden zu sein. Liebe Menschen auch, selbstverständlich. Doch Zeit zum Streicheln eben genauso. Momentan kann ich nur so funktionieren.


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