Das Leben nimmt wieder Fahrt auf. So würden es bestimmt jene ausdrücken, die sich in den vergangenen Wochen extrem ausgebremst gefühlt haben. Bei mir ist es eher so, dass ich schon wieder auf die Bremse steigen möchte.
Den Eltern meinen Lieblingsplatz zu zeigen, sie orientalisch zu bekochen und mich innerlich an ihren gegenseitigen Mechanismen abzuarbeiten – das könnte ich jetzt wieder. Der Muttertag war dafür der perfekte Rahmen, und sogar das Wetter war anständig, wenn auch nicht besonders gut. Wenn man allerdings immer das tut, was das Wetter zulässt, ist man im Flow, auch zu dritt. Meine Eltern mit Mund-Nasen-Bedeckung am Bahnhof abzuholen, war allerdings gewöhnungsbedürftig, und ich kann jetzt gar nicht so genau sagen, warum. Vermutlich, weil ich ihre Freude über unser Wiedersehen erst dann gesehen habe, als ich die Lachfältchen um ihre Augen wahrnehmen konnte. Und ja, eigentlich hatte ich meine Brille vorher geputzt. Doch Brillen, Haare und Ohrgummis lenken schon irgendwie vom Wesentlichen ab.
Seit 1. Mai treffe ich mich ja privat mit den Menschen, die mir am Herzen liegen, und stets warne ich davor, dass ich auch umarmen werde. Es kann ja sein, dass jemand noch nicht so weit ist. Eine Freundin von mir meldete beispielsweise zurück, dass sie noch ein bisschen Zeit brauche. Meine älteren Nachbarn glücklicherweise nicht, und gestern habe ich in einem Anflug von Seligkeit auch meinen vierjährigen Lieblingsmann nach Wochen der durch einen Zaun getrennten Sehnsucht in den Arm nehmen können. Apropos, getrennt: In einem Monat darf ich das auch mit meinen Kindern und deren Vater wieder tun, die in Deutschland wohnen. Eigentlich könnte ich schon jetzt riskieren, über die Grenze zu schleichen, doch das Stichprobenrisiko, von einem ob der Familienverhältnisse komplett verwirrten Beamten wieder nach Hause geschickt zu werden, muss nicht sein. Die sonntäglichen Videokonferenzen helfen allen über die Trennung hinweg.
Zum Lernen fehlt mir aktuell schon wieder die Zeit, weil das Lehren in den Vordergrund gerückt ist. Wenn ich alles zusammenzähle, was sich allein seit gestern aufgetan hat, dann vermelde ich vier Online-Workshops und drei Präsenzseminare von September bis November. Seit Kurzem gibt es auch eine Deadline für das dritte Buch, was bedeutet, dass ich Beiträge aussuchen, die dazu gehörige Website texten und mich um ein kleines, aber wichtiges Extra kümmern muss, das hier noch nicht verraten wird. Hinzu kommt das Schreiben von Artikeln, das auch wieder zunimmt und wirklich Freude macht. Ab Ende Mai wird die Zeit noch knapper, weil ich dann eine neue Ausbildung beginne, auf die ich mich ebenfalls sehr freue, weil sie im März starten hätte sollen, doch durch das C-Wort gefährdet war. Jetzt starten wir einfach später, und das in einem Raum, in dem wir weit genug auseinander sitzen können.
Tja, und dann ist da noch die andere Seite meines Ichs. Die, die die Gartenhütte in eine Liegehütte umbauen will. Die, die das Ergebnis einer Häckselorgie endlich im Hochbeet und sonstigen Kompartimenten unterbringen möchte. Die, die immer noch nicht genug über das Kartenlegen weiß und die auch noch ein soziales Leben hat(te). Der Gastronom meines Vertrauens sperrt sein Lokal auch wieder auf, und ich wünsche ihm wirklich gutes Wetter, damit sich die Tische im Außenbereich füllen können. Sein Lokal ist nämlich superwinzig, und nach der Durststrecke, die hinter ihm liegt, erhoffe ich für ihn Unmengen von Groupies. Und auch ich werde beim nächsten lauen Abend dort sein und ihn umarmen – er ist darauf schon vorbereitet und hat mein Vorhaben abgenickt.
Mein Jüngster hat inzwischen seinen Bachelor in der Tasche, und seit Wochen warten wir darauf, einen Termin für eine entsprechende Feier vereinbaren zu können. Das ist jetzt ebenso möglich wie das Nachfeiern von Ostern und sämtlicher Geburtstage, die heuer in der Sparvariante über die Bühne gegangen sind. Und während ich das alles schreibe, denke ich mir: Woher soll ich die Zeit für all das nehmen? Ich werde sie finden und, nein, ich schreibe nicht schon wieder über Zeitmanagement. Vielmehr über Prioritäten. Und die werden ganz klar andere sein als vor einiger Zeit. Weil ich das Gefühl habe, dass gerade alles zu mir kommt, was zu mir gehört. Weil ich dabei so ein großes Glück empfinde. Weil ich spüre, dass es richtig ist. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal diese Empfindung hatte. Immer war irgendetwas schwer, zäh oder nur mit Anstrengung zu bewältigen – beruflich wie privat. Jetzt flutscht es. Und auf diese Geschmeidigkeit werde ich mich konzentrieren. Und bei dem kleinen Rausch achtsam bleiben, denn ich kenne mich: Ab einem bestimmten Zeitpunkt werde ich übermütig, weil eh alles so großartig ist. Da kann ich schon mal eine Ausnahme machen von der wunderbaren Reise. Und dann ist auch eine zweite machbar, und schon habe ich mich selbst von der Welle heruntergeholt. Natürlich ist mir klar, dass das Meer eine unruhige Angelegenheit ist und dass es immer anders kommen kann, als man es geplant hat. Doch gerade das ist momentan ja das Schöne: Ich plane gar nicht so viel und werde trotzdem geflutet von so viel Schönem. Vor allem von Dankbarkeit in meinem Inneren. Und das ist Gott sei Dank keine Sache von Ebbe und Flut.
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