FREITAG: Langsamkeit hat was

Manchmal verlangsamt sich das Leben so, dass man nur noch einschlafen kann. Und das ist noch nicht einmal die schlechteste Option, wie ich feststellen durfte.

Zum zweiten Mal innerhalb eines halben Jahres durfte ich unangenehme Erfahrungen mit dem öffentlichen Verkehr machen. Und beide Male hatten sich die BahnarbeiterInnen des jeweiligen Landes ausgerechnet jene Tage für einen Streik ausgesucht, an dem ich mich zu einer Zugfahrt durchgerungen hatte. Und das auch nur, weil mein aktuelles Auto ja schwächelt und das neue noch nicht angekommen ist. Zusätzlich kamen auch noch Bauarbeiten an der Bahnstrecke dazu, die man ausgerechnet an einem Wochenende terminiert hatte. Gut, für Bauarbeiten an Straßen und Gleisen ist praktisch nie der richtige Zeitpunkt, doch ich bin schon sehr gut darin, mir die richtigen Tage auszusuchen, auch wenn es mir im Vorhinein nicht klar ist. Bahnfahren bedeutet für mich immer, mich vor der Ticketbuchung zu fragen, ob ich Verwerfungen ertragen kann oder mir vielleicht doch lieber das Auto meiner Freundin ausborge. Doch bald wird sich auch diese Überlegung erledigt haben – hoffentlich!

Doch vorerst musste ich erschwerte Bedingungen einstecken. Zuerst packte ich mich in einen Bus des Schienenersatzverkehrs. Anfangs dachte ich noch, dass ich vielleicht zwei Sitze für mich haben könnte, um mich auszubreiten und den Kontakt mit umliegenden Personen so auf Distanz zu halten. Wurde leider nichts, als sich eine sportliche Frau im Schianzug neben mich setzte und mir gerade soviel Spielraum ließ, dass ich meinen Kopf an die Fensterscheibe lehnen konnte. Rund um mich herum wurde geniest, von Infektionen durch Gespräche ganz zu schweigen. Ich bin immer wieder fasziniert davon, worüber sich Menschen Gedanken machen und die dann auch noch glauben, aussprechen zu müssen. Aber das bin halt ich, die Small-Talk-Anti-Queen. Je älter ich werde, umso weniger habe ich Lust darauf und erkenne im Gegenzug mehr und mehr die Vorteile von selektiven Wortspenden. Ich muss nicht zu allem eine Meinung haben, und wenn ich sie habe, muss ich sie nicht unter allen Umständen nach außen tragen. Entspannt!

In dieser bedrängten Lage blieb mir nur übrig, mich einzustöpseln und mit gebeugtem Haupt einzuschlafen. Was überraschender Weise gut klappte, auch wenn mein Genick danach starr wie eine altbackene Semmel war. Aber hey, ein Kaffee wartete am Zwischenstopp-Bahnhof, die Sonne ebenso und das Strecken der gefalteten Glieder klappte wunderbar. Relativ gut gelaunt bewältigte ich deshalb dann auch die Teilabschnitte Zwei und Drei, wo ich ausreichend Platz hatte, um das Ansteckungsrisiko jeglicher Art in engen Grenzen zu halten.

Auf der Rückfahrt blieb mir glücklicherweise das Busfahren erspart, dafür durfte ich eine Sightseeing-Tour durch die Berge machen, der ich mich normalerweise nie ausgesetzt hätte. Regionalbahnen, die bei jedem Misthaufen stehen bleiben, mögen idyllisch sein, doch wie beim Auto möchte ich auch vom Zug möglichst direkt von A nach B gebracht werden. Nicht an diesem Tag! Und da ich es im Vorfeld schon wusste, habe ich schon zeitnah damit begonnen, Widerstand abzubauen. Denn ich habe festgestellt, dass es viel mehr Energie kostet, sich dem Leben entgegen zu stellen, als mit ihm zu fließen.

Ich wurde belohnt mit einem Sechser-Abteil in einer etwas älteren Zuggarnitur, in der ich seit Jahren nicht mehr gesessen bin. Sie erinnern sich vielleicht noch, dass man dort die Vorhänge zuziehen konnte und vor dem Abteil eine Lampe leuchtete, wenn es besetzt war. Ich musste an eine Nachtzugreise nach Venedig in meinen persönlichen 20ern denken, wo ich es mir mit einer Freundin sehr gemütlich gemacht hatte, als zwei Männer ins Innere drängten und uns bis zur Lagune vorzüglich unterhielten. Ach ja!

Im Sechser-Abteil des Jahres 2023 zog ich mir wieder die Schuhe aus und zog die Beine an meinen Körper. Draußen zogen winterliche Nebelschwaden und Schneestürme an mir vorbei, und es gab noch nicht einmal Gegend zu sehen. Also streckte ich mich über drei Sitze aus, auch weil ich wusste, dass in den kommenden 90 Minuten kein Mensch zusteigen würde. Nach fünf Minuten Betrachtung des Wetter-Einerleis nickte ich ein und wachte pünktlich am nächsten Bahnhof auf.

Es war ein guter Schlaf gewesen, einer, zu dem ich nur gezwungen worden war, weil mich das Leben auf eine langsamere Strecke geschickt hatte. Weil ich meinen Widerstand gegen Umwege aufgegeben und das beste aus meiner Situation gemacht hatte. Eine kleine sentimental journey eingegangen war, die mich zurück gebeamt hatte in eine Zeit, in der sich die Welt allgemein noch langsamer gedreht hat. Und wo sich keiner darüber aufgeregt hat, wenn der Zug nicht 220 Stundenkilometer fuhr. Es dauerte eben, so lange es dauerte. Und angekommen sind wir auch – in Venedig, aber auch in Salzburg. Nach dem Bahnschlaf konnte ich am Ende sogar wieder das Busfahren ertragen.

Die gesprochene Version dieses Textes finden Sie auf www.voll50.com/category/podcast


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