FREITAG: Sechs Kelche

Normalerweise werde ich leicht unruhig, wenn ich bei einer Kartenlegung eine Karte erwische, die einen Impuls aus der Vergangenheit ankündigt. Doch mit etwas Gelassenheit entsteht daraus etwas sehr Schönes.

Es gibt da diese eine Tarotkarte, die einen Buben und ein Mädchen zeigt, das von ihrem Gegenüber einen Kelch mit einem Stern und Blumen überreicht bekommt. Die „Sechs der Kelche“ steht für Erinnerungen sowie den Traum von Glück und Harmonie. Sie sprang in letzter Zeit beim Mischen ziemlich häufig aus dem Kartendeck, und ich machte mir schon Sorgen. Denn wenn die Gegenwart voll ist – wo soll da noch Platz für die Vergangenheit sein mit allem, was daherkommen kann?

Ich blieb also vorsichtig gelassen und wartete ab. Und lange dauerte es nicht, bis sich Entsprechendes einstellte. Zuerst in Form einer Reisebekanntschaft, die sich aus einem für mich ziemlich unlustigen Aufenthalt in Tansania ergab. Noch heute wundert mich das, denn in dieser Zeit war ich medikamentenbedingt nicht wirklich ich selbst. Doch selbst als ich wieder von den verschiedenen Substanzen befreit war, hielt sich der Kontakt und ging in nahezu jährliche Treffen über. So eben auch jetzt. Natürlich spielten Erinnerungen beziehungsweise deren Auffrischungen auch bei diesem Treffen eine Rolle. Ich hatte aufgrund meiner Bedenken bezüglich dieses Landes wenig Neues anzubieten, mein guter Bekannter schon. Doch abseits von den Erinnerungen und der gemeinsamen Liebe zu Afrika stellte sich einmal mehr heraus: Der Traum von Harmonie hält auch im Wachzustand. Denn ich kenne kaum einen Mann, der derart easy going und leicht in den verschiedensten Facetten des Lebens ist. Zeit mit ihm zu verbringen, ohne auch nur einen Moment gestresst zu sein oder in die Bedürfniserfüllungsschiene zu geraten, war wirklich eine große Freude. Nächstes Jahr bin ich wieder dran mit dem Gegenbesuch, und ich bin zuversichtlich, dass sich an der Entspanntheit der gemeinsamen Zeit wenig geändert hat.

Die zweite Erfüllung der sechs Kelche flatterte in Form einer Einladung ins Haus. Ein Schulkollege hatte beruflich in meiner Stadt zu tun und lud mich zu seiner Pressekonferenz ein. Jetzt ist es ja so, dass vieles, was mit meiner gymnasialen Zeit zu tun hat, eher negativ besetzt ist. Die üblichen Verdächtigen: Lehrer, Lernunlust, Lebenssinn. Die Klassengemeinschaft war in Grüppchen gespalten und in ihren Zirkeln sehr exklusiv. Die „Tribes“ von meinem Schulkollegen und mir waren denkbar unterschiedlich, eine Schnittmenge ergab sich nur, weil wir zur selben Zeit am selben Ort zu sein hatten. Er war das naturwissenschaftliche Genie, das darüber sprach und sich mit Themen beschäftigte, die mich damals nicht einmal peripher interessierten. Weshalb ich damals hauptsächlich mit Abgrenzung beschäftigt war, damit ich in meiner romantischen Träumerlein-Blase bleiben konnte. Auf meine mangelnde Begabung für das, was man heute MINT nennt, möchte ich der Vollständigkeit aber auch noch hinweisen. Dass ich im Chemieunterricht Gedichte geschrieben habe, hat mein Standing bei den MINT-Lehrern kaum gefestigt. Aber hey, ich habe überlebt!

Am Morgen vor der Pressekonferenz schrieb ich mir wie jeden Tag die nächtlichen Flausen aus dem Kopf und überlegte, wie die Begegnung mit meinem Schulkollegen wohl ablaufen würde. Ich bin ja überhaupt keine Freundin von Klassentreffen, was bedeutet: Ich habe ihn seit 35 Jahren nicht mehr gesehen. Zwischen den Jahren hatte ich zwar einmal ein berufliches Telefonat mit ihm geführt, und damals war schon angeklungen, dass aus dem genialen und fokussierten MINTler doch ein gerüttelt Maß an Selbstreflexion sprach. Doch auch das ist inzwischen Jahre her, und man weiß ja, dass sich manche Eigenschaften aus der Jugend mit zunehmendem Alter verfestigen. Insofern: Wen würde ich vorfinden? Und wie kann ich den naturwissenschaftlichen Minderwertigkeitskomplex ausbremsen?

Ich traf eine Entscheidung und beschloss, meinen Mitschüler als vollkommen neuen Menschen zu begreifen. Es heißt ja, dass sich der Körper eines Menschen alle sieben Jahre erneuert. Insofern ist von dem „alten“ Menschen tatsächlich nichts mehr übrig. Von mir übrigens auch nicht. Schließlich hatte ich durch meine Kinder feststellen dürfen, dass gewisse Mathekenntnisse doch geblieben waren und auch mein Denksystem eine gewisse analytische Qualität entwickelt hatte. Insofern fuhr ich zuversichtlich zu dem Termin.

Ihn äußerlich zu erkennen, war dank Dr. Google kein Problem, und ich konnte seine Freude über mein Kommen empfinden. Mir ging es genauso, auch wenn ich das vor 35 Jahren kaum geglaubt hätte. Ich nahm am Ende der Tafel Platz, entspannte mich und ergab mich der Beobachtung. Und siehe da, es gelang. Nämlich jenen Menschen wahrzunehmen, der am Podium seine Anliegen ausführte, mit Engagement und Kompetenz. Und fast alles, was früher mal gewesen oder nicht gewesen war, auszublenden. Das geschah noch nicht mal unter Aufbietung meiner sämtlichen Motivationsmuskeln, sondern ganz einfach. Klar, es gab das Band der gemeinsamen Schulzeit, doch unser beider Entwicklung war zu offensichtlich, als dass sie hätte negiert werden können. Das zu entdecken, schenkte unglaublichen Frieden.

Nach der Veranstaltung standen wir noch kurz beisammen, und ich erzählte ihm von meinem morgendlichen Entschluss, mit offenem Herzen auf die Begegnung zuzugehen. Vor Freude umarmte er mich, und da wusste ich, dass die Entscheidung richtig war. Nämlich die, jedem Menschen Entwicklung zuzugestehen. Ob es die eigenen Eltern, Freunde oder man selbst ist – unser „Work in progress“-Status ist immerwährend. Sich dem Fluss hinzugeben, statt um alteingesessene Pfründe oder Überzeugungen zu kämpfen, macht das Leben, wie es sein sollte: leicht. Heute treffen wir uns noch einmal auf einen privaten Kaffee. Die Schnittmenge hat sich vergrößert.


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