Dass mein Leben immer wieder als Projektionsfläche verwendet wird, bin ich ja schon gewöhnt. Und trotzdem verwundert mich es immer wieder, welche Eindrücke ich bei anderen zu hinterlassen scheine.
Kürzlich hörte ich, dass ich ein hartes Leben habe. Und weil ich umso lieber nachdenke, je abwegiger die Projektion ist, nahm ich den Impuls auf, um eben dieses Leben einmal mit anderen Augen zu sehen. Hier sind die Fakten: Ich lebe alleine in einem Haus, das im Grunde viel zu groß für mich ist. Das Schreiben von Honorarnoten ist nur beschränkt automatisiert. Ich lebe einer Beziehung über 10.000 Kilometer, die also kaum von Nutzen ist, wenn es um Hilfestellungen im Alltag geht. Ich bin 56 Jahre alt, nicht mehr taufrisch und dem Ende meines Lebens näher als dem Anfang. Habe ich etwas vergessen? Bestimmt.
Das hat aber vermutlich damit zu tun, dass ich unfähig bin, mein Leben unter dem Gesichtspunkt des Mangels zu betrachten – zumindest meistens. Eine Fernbeziehung kann manchmal schon in den Mangel treiben, aber zumindest gibt es Internet und Smartphones. Besser als nichts. Und genau das ist mein Mindset. Heute morgen habe ich gelesen, dass Phantasievorstellungen das Offenlegen des wahren Wesens verhindern. Dass sie dazu beitragen, die Menschen in der näheren Umgebung so zu kostümieren, dass sie den eigenen Bedürfnissen gerecht werden.
Dass das Bemalen meiner Projektionsfläche viel mit den Malern und Malerinnen zu tun hat, war mir bereits klar. Doch ich hatte mich bislang darauf beschränkt, mir das Wesen des Gegenübers anzuschauen und mir einen Reim darauf zu machen. Diese morgendliche Anregung geht eine Ebene tiefer. Und alles, was der Wurzel näher kommt, fasziniert mich.
Wenn also jemand etwas auf mich oder mein Leben projiziert, will er oder sie etwas von mir. Diese Erkenntnis ist wichtig für mich, weil ich da ja ganz schlecht bin. Nämlich insofern, dass ich Beweggründe anderer nur äußerst mangelhaft erahnen kann, weil mir dafür oft die Phantasie fehlt. Von der Zeit rede ich jetzt gar nicht. Ich habe zum Beispiel nie erfassen können, wenn ein Mann in mich verliebt war. Dazu habe ich immer Freundinnen gebraucht, die mir ein Bewusstsein dafür gegeben haben. Ich habe auch in Seminaren und Ausbildungen, an denen ich teilgenommen habe, nie gemerkt, wenn es unter den Teilnehmenden Spannungen gegeben hat. Und ich stehe auch fassungslos vor Interpretationen meiner Sätze, die wohlwollend abgesendet und missmutig aufgenommen werden.
Was will also jemand von mir, wenn er Negatives auf meine Lebensleinwand malt? Vielleicht, dass ich ihn oder sie brauche? Vielleicht, dass ich mein Leben mehr nach seinen oder ihren Vorstellungen gestalte, weil es dann wiederum ihr oder sein Leben einfacher macht? Vielleicht, dass er oder sie eine Leidensgefährtin mehr hat, weil geteiltes Leid fast schon Glück ist? Sie sehen schon, wohin das führt. Nämlich in noch mehr Projektionen, die sich ja zu einer wahren Seuche ausweiten können. Und in meiner Welt hatten wir in den vergangenen Jahren schon genug vom Thema Pandemie.
Ich mag Menschen so nehmen, wie sie sich mir präsentieren. Wenn sie gut drauf sind, genieße ich ihre Gesellschaft. Wenn sie schlecht drauf sind, befinde ich mich in einem Lernraum, in dem ich herausfinden kann, welche Haltung ich dazu einnehme. Vor langem habe ich zum Beispiel beschlossen, mir keine Gedanken mehr darüber zu machen, ob mich jemand anlügt. Weil ich erstens weiß, dass sich die Wahrheit irgendwann Bahn brechen wird. Zweitens, dass ein lügender Mensch von Angst geplagt ist und das nur Mitleid in mir auslöst. Und drittens, weil es mir Freude bereitet, Ungereimtheiten so lange zu hinterfragen, bis erstens ans Tageslicht kommt. Auf mich trifft wohl der Satz zu: „Wenn Dir das Leben Zitronen gibt, mach‘ Limonade daraus.“
Insofern zurück zum Anfang. Ich liebe es, viel Platz für meine Gedanken, Pläne und Besuche zu haben. Gerade habe ich das Schreiben dieser Zeilen unterbrochen, weil ich zu einem Lied aus dem Radio durch mein Wohnzimmer getanzt bin. Das könnte ich in einem 9 to 5-Job nicht. Und das ist mir inzwischen wichtiger, als regelmäßige Honorarnoten zu schreiben. Musik ist auch einer von vielen Wegen, die mich mit der Liebe verbindet – jene zur Menschheit, aber vor allem auch zu einem bestimmten Menschen. Denn Musik kennt keine Grenzen und ist eine universelle Kraft, die Seelen verbindet. Dass unsere Seelen eben momentan nur eingeschränkte Möglichkeiten haben, an einem Ort miteinander zu tanzen, empfinde ich mitnichten als Mangel, sondern als Chance, Verbundenheit nicht an die Physis zu tackern. Und das hilft nicht nur uns, sondern auch dem Umgang mit der ganzen Welt. Und wenn ich mich mit allen und allem verbunden fühle, arbeite und lebe ich mit leichtem Herzen, finde mich großartig mit 56 Jahren und weiß, dass ich noch so viele Abenteuer vor mir habe. Andere haben ihre Phantasien, ich habe ein wunderbares Leben, das ich jeden Tag gestaltet werden darf. Auch dafür braucht es Kreativität, aber auch eine positive Einstellung und Offenheit. Darauf rutscht jeder Mangel aus.
Die gesprochene Version dieses Textes finden Sie auf www.voll50.com/category/podcast
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