Wissen Sie, was mir in der öffentlichen Wahrnehmung fehlt? Dass Dinge möglich sein können. Momentan wird uns ja dauernd gesagt, was unmöglich ist. Keine gute Strategie, wenn man Menschen gesund machen oder erhalten will.
Ich dachte ja im Sommer noch, dass wir als Gesellschaft etwas aus dem Frühling gelernt hatten. Dass wir uns mehr bewegen. Dass wir uns gesund ernähren. Dass wir uns überlegen, was notwendig und was dringend ist. Und dass auch von offizieller Seite Transparenz und Objektivität Einzug halten würde. Doch am vergangenen Samstag bin ich wieder vor dem Bildschirm gesessen und musste mich gegen emotionale Grenzziehungen wehren.
Natürlich sind die Zahlen steigend. Natürlich wollen wir keinen einzigen Menschen verlieren, dessen Zeit normalerweise vielleicht noch nicht abgelaufen wäre. Natürlich muss eine Regierung darauf schauen, dass die Bevölkerung gesund wird. Und der Donald ist ein abschreckendes Beispiel dafür, wenn es einem Staatsoberhaupt eher egal ist, wenn Kurven Hochkonjunktur haben, die nichts mit weiblichen Rundungen zu tun haben. Seine Stunden sind gezählt, egal ob er sich jetzt der Amtsübergabe verweigert oder nicht. Sein Karma wird durch die Realitätsverneinung nur schlechter, vor allem wenn es um die vier Millionen Infizierten und die knapp 250.000 Toten geht. Ob Jomala das Ruder herumreißen können, bleibt zu hoffen, ist aber noch nicht klar. Doch zurück zu unserer eigenen Haustüre.
Die Wochenend-Verlautbarer erzählen mir also wieder, dass ich zuhause bleiben soll und nennen vier Ausnahmen. Auch alte Bekannte. Was in mir als lernendem Wesen den Impuls auslöst, etwas anders zu machen als im Frühling. Nämlich nicht blind und obrigkeitshörig darauf zu vertrauen, was mir gesagt wird, sondern selbst zu recherchieren. Als Journalistin lernt man ja, dass man zur Quelle gehen soll, wahlweise zur Wurzel. Und dort finde ich die Verordnung, die wieder einmal anders lautet als das, was über den Rundfunk transportiert wird. Ich verschicke sie vereinzelt an Interessierte und höre doch, dass man das glaube, was im Radio und Fernsehen gesagt wird. Da waren wir doch schon einmal, und nein, sich veräppelt zu fühlen, ist kein gutes Gefühl.
Die Situation ist ja diese: Wir bekommen gesagt, was wir nicht mehr dürfen, doch die Selbstwirksamkeit leidet derartig darunter, dass wir uns noch nicht einmal auf die Suche danach machen, was wir sehr wohl dürfen. Die Angstmache von oben funktioniert also immer noch blendend. Und da werde ich grundsätzlich rabiat, auch wenn ich normalerweise gerne in Ruhe und Frieden auf meiner Weide grase. Was mich an der Situation wirklich stört, ist, dass sich der Mensch heutzutage anstrengen muss, wenn er sich Freiheit verschaffen möchte. Wie gesagt, im Rahmen der Möglichkeiten. Das hier soll kein Aufruf zur Straffälligkeit sein.
Wir alle sind freie Menschen. Und natürlich kann man jetzt sagen, dass man sich die Freiheit nimmt, den Verordnungen so zu folgen, wie man sie eben vorgesetzt bekommt. Geschenkt. Im Frühling habe ich das ja auch so lange getan, bis mir klar wurde, dass da noch ein bisschen Luft nach oben gewesen wäre. Und die will ich im aktuellen Zustand auf jeden Fall nützen. Wer sich lustvoll mit Räucherstäbchen einnebelt, freut sich andererseits immer über ein Mehr an Frischluft.
Die ist zwar momentan nicht so temperiert, wie sich das mein sehnsuchtsvolles Ich wünscht, und doch gedenke ich auch hier, an die eigenverantwortlichen Grenzen zu gehen.
Mein Leben hat sich ja in den vergangenen Monaten ziemlich verändert. Letztes Jahr um diese Zeit habe ich mich daran abgearbeitet, dass ich mir in meinen Lieblingsbars keine Zigarette mehr anzünden durfte. Das war der Abschied vom lebendigen Gedränge in diesen Etablissements, vom Tanzen mit einem Tschick in der Hand, von Gesprächen, die zwar größtenteils nutzlos, aber doch sehr unterhaltsam waren. Und so wurde aus meinem kuscheligen, sozialen Leben ein stark vereinzeltes soziales Leben. Man traf sich nicht mehr zufällig, sondern ganz gezielt. Und insofern stelle ich fest, dass ich dafür jetzt sogar eine gesetzliche Grundlage geschaffen bekommen habe. Denn die Menschen, mit denen ich mich zusammen getan haben, waren ohnehin wichtige Bezugspersonen. Insofern ändert sich für mich im Grunde gar nichts. Sozial gesehen. Dass ich Weihnachtsgeschenke vermutlich mit Logistikdienstleistern anliefern lasse, ist verkraftbar. Das Gewusel in den Einkaufszentren und Geschäften war mir in den vergangenen Jahren eh zunehmend lästig.
Was allerdings für mich schon dazu kommt, ist die Frage des Vertrauens. Denn wenn ich Weihnachten mit meinen Eltern (um die 80) feiern und anschließend nach Südafrika fliegen möchte (was aktuell ginge), muss ich gesund bleiben. Nein, ich will gesund bleiben. Und das setzt voraus, dass ich meinen wichtigen Bezugspersonen vertraue. Insofern, dass sie auf sich selbst achten, sich keinen rudeltechnischen Risiken aussetzen und sich auch sonst in keinster Weise schwächen. Ein Freund von mir hat sogar mit der Einladung zum Abendessen ein negatives Testergebnis geschickt. Entzückend! Diesen Service erwarte ich natürlich nicht von jedem, und doch wird es vermutlich in absehbarer Zeit viele von uns geben, die sich die Testergebnisse zeigen werden. Soweit sind wir also gekommen: Früher zeigten wir uns im Freundinnenkreis unfreiwillig empfangene Penisfotos, jetzt dann vermutlich die Testauswertungen. Prioritäten können sich also tatsächlich verschieben, nicht nur beim Einzelnen, sondern der ganzen Gesellschaft. Die Frage ist halt nur, welche Intention dahinter steckt. Angst scheint mir verkehrt, die Lust auf das Leben schon eher hilfreich. Musik kann helfen, ich empfehle Jill Scotts „Golden“.
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