FREITAG: Ein ernstes Wort mit mir selbst

Sind sie nicht wunderbar, diese frühsommerlichen Nächte, noch dazu, wenn ein Supermond über den Himmel zieht? Ich wünschte, ich hätte mehr von diesen Momenten in Moment.

In meiner Wunschwelt würde ich jetzt irgendwo am Meer sitzen, vor einem Bier und einem Teller Muschelsuppe. Mein Rücken hätte aufgehört zu schmerzen, mein Fuß wäre beweglicher und die Wellen hätten sämtliche Themen mitgenommen, die schon über den Tellerrand meines Gehirns hinaushängen. Ich würde dem Erdbeermond bei seinem Lauf über den Himmel zuschauen und mir überlegen, wovon ich mehr möchte.

Stattdessen sitze ich auf meiner Terrasse und versuche nach 19 Uhr, meine Arbeit weiter zu bringen. Gut, ich kann mich glücklich schätzen, dass ich im Freien arbeiten darf, beim Heben meines Kopfes die reifenden Kirschen sehe und darauf warte, bis mir die Katze die nächste Maus bringt. Ich werde nämlich in letzter Zeit wieder sehr von ihr verwöhnt, und sie will dafür ausgiebig gelobt werden. In diesen Momenten denke ich mir, dass sie mir geschickt wird, damit ich endlich einmal durchatme, das, was ich gerade tun wollte, fallen lasse und einfach nur mit meinen Fingern über ihr Fell streiche. Doch diese so überaus wohlwollende Tätigkeit für uns beide unterliegt inzwischen auch einem gewissen Zeitdruck. Denn es wartet ein Anruf, eine Mailantwort, eine Whatsapp-Nachricht oder ein anderes Bedürfnis darauf, anerkennt und bearbeitet zu werden.

Ich bin direkt froh, dass dieser Erdbeermond die längsten Tage des Jahres nach sich zieht, denn die brauche ich auch. Ja, ich lamentiere wieder einmal über mein Zeitmanagement, doch ich bin schon einen Schritt weiter gekommen. Und dieser Schritt geht in Richtung Verzicht. In der heutigen Zeit kein besonders beliebtes Thema, weil ja viel zu viele Menschen der Meinung sind, dass sie viel zu lange auf gewisse Dinge verzichten mussten. Heute habe ich mit einem Psychotherapeuten telefoniert, der in einer Beratungsstelle für Studierende arbeitet. Und er sagte, dass die jungen Menschen heutzutage auf gar nichts mehr verzichten wollen und deshalb auch keine Beziehungen mehr eingehen. Auf Tinder gehen, ja. Sex haben, ja. Aber eine Beziehung? Es könnte ja noch etwas Besseres kommen. Damit ist das Ghosting schon wieder erklärt. Wozu Worte machen, wenn es eh zum Allgemeinwissen wird, dass eine unbeantwortete Nachricht bedeutet: Ich habe etwas Besseres gefunden?

Wie auch immer. Das Dating-Thema ist ja bekanntlich keines mehr für mich, der Verzicht definitiv. Mein Alltag ist ja ein breiter Fluss, in dem Arbeits- und Lebenswellen eine Einheit bilden. Im Grunde hat alles Platz, was daher kommt, denn in 17 Stunden sollte doch einiges zu bewältigen sein. Das denke ich mir jeden Tag, wenn ich die Augen aufschlage und mich frage, welche Wellen wohl wieder in meine Stunden rollen werden. Und normalerweise finde ich das immer spannend, denn so wird das Leben zum Abenteuer. Doch aktuell bin ich in der Früh derartig erledigt, dass ich mich lieber unter der Bettdecke vor den Wellen verstecken möchte als mich ihnen in einem schicken Bikini entgegen zu werfen. Vom vielen Sitzen tut mir der Rücken weh, und selbst meine täglichen Yoga-Einheiten helfen nur bedingt. Dass ich nicht zum Spazierengehen komme, hängt mit den Arbeitsanforderungen zusammen, vor allem in einer verkürzten Arbeitswoche mit vorgezogenen Abgabefristen. Noch dazu fällt zum zweiten Mal in Folge mein Selfcaring-Sonntag aus. Und genau hier befinde ich mich am Knackpunkt.

Im April habe ich gesagt, dass im Mai alles leichter werden wird. Im Mai habe ich gesagt, dass der Juni leichter werden wird. Und jetzt verteidige ich gerade meinen Juli, dafür aber mit Nägel und Zähnen. Denn es ist mir bewusst geworden, dass auch ich nicht alles haben kann. Dass ich zu seltenen Chancen, die ich gelernt habe zu nutzen, einfach „NEIN“ sagen muss, um nicht in ein permanentes Hyperventilieren zu kommen. Und ich muss mir eingestehen, was mich vom Neinsagen abgehalten hat. Punkt Eins: Es könnte ja etwas passieren, was eine ganz wichtige Lektion in meiner Persönlichkeitsentwicklung darstellt. Punkt Zwei: Ich freue mich, wenn Menschen, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe, meine Gesellschaft suchen. Sprich an mich denken, wenn sie in der Nähe sind.

Also muss ich mit mir selbst ein ernstes Wort reden. Zu Punkt Eins: Ich bin jetzt 56 Jahre, habe einen großen Freundeskreis, zugewandte Kinder und Eltern, einen überaus liebevollen Partner, großartige berufliche Kontakte und Möglichkeiten. Brauche ich wirklich jede Gelegenheit, meine Persönlichkeit weiter zu peitschen? Ich glaube, ich kann es auch einmal gut sein lassen. Wenn ich jede zweite Chance ergreife, wird das immer noch hilfreich sein. Punkt Zwei: Das klingt verdammt nach einem People’s Pleaser, einer Person, die es allen recht machen will. Im Grunde könnte ich mir selbst sagen: „Nur weil sie einmal im Jahr an mich denken, bedeutet das nicht, dass ich gleich auf und nieder springen muss.“ Und das werde ich von nun an auch üben. Und ganz penibel an meiner Zeitstruktur festhalten, die da lautet: einen Tag Ruhe, einen Tag Gesellschaft. Anders kann ich weder meinen beruflichen noch energetischen Alltag bewältigen. Hey, ich bin über 50. Über die Straße komme ich noch alleine, doch für den Rest brauche ich Batterien. Die ich aufladen muss, komme was wolle – egal, ob Chancen oder Menschen. Oder beides. Was kommen muss? Mehr Fokus auf den Alltag und wie ich ihn ohne hängende Zunge bewältigen kann. Macht schrecklich unattraktiv, und wer will das schon sein?

Die gesprochene Version dieses Textes finden Sie auf www.voll50.com/category/podcast


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