FREITAG: Rocken unter dem Christbaum

Momentan habe ich wieder das Bedürfnis, jeden Morgen eine Tarotkarte zu ziehen. Sie ist für mich ein kleiner Kompass, damit ich mich während des Tages nicht zu sehr zerstreue.

Heute in der Früh habe ich „Die Liebenden“ gezogen. Doch ganz im Gegensatz zu den traditionellen Decks ist auf meiner Karte eine Frau abgebildet, die sich im Spiegel betrachtet. Das passt sehr gut zu dem Thema, das mich aktuell mehr als alles umtreibt, nämlich die Selbstliebe. Und das hat jetzt nichts damit zu tun, dass frau egoistisch wird und die natürliche Verbundenheit außen vor lässt. Sondern eher damit, dass es gerade in Zeiten wie diesen mehr denn je wichtig ist, die eigenen Bedürfnisse anzuschauen.

Wenn ich mir mein persönliches Leben aktuell anschaue, läuft da einiges aus dem Ruder. Nicht dass mich das in diesem Jahr wundern würde! Seit Jahren stelle ich fest, dass mit zunehmendem Alter auch die Inhalte zunehmen. Ganz kann ich mir das nicht erklären, weil ich mir ja vor einiger Zeit vorgenommen habe, mich nur mehr für fünf Themengebiete zu interessieren. Und auch stets versuche, meinen Alltag inklusive Kleiderschrank zu entrümpeln. Inzwischen habe ich sieben Säcke verschenkt, damit mein Liebster wenigstens einen Platz hat, wo er nach seiner Ankunft in wenigen Tagen seine Hemden aufhängen kann. Ich habe mir auch eingetragen, dass ich in der Woche davor mein Leben runterschrauben möchte, damit ich nicht völlig hysterisch und abgerackert am Flughafen stehe und ihm aus Erschöpfung und nicht aus Freude um den Hals falle. Ersteres ist jetzt trotzdem wahrscheinlicher als letzteres, weil mich dieses ohnehin schon übervolle Jahr noch einmal dazu auffordert, Strukturen zu schaffen.

Jetzt kann ich das ziemlich gut, weil ich in mir selbst eine ziemlich gute Struktur habe. Das bedeutet, ich weiß relativ genau, wenn etwas unlogisch oder ineffizient läuft. Und mir wird auch in ähnlicher Geschwindigkeit klar, wo der Hebel anzusetzen ist. Vor Jahren hat mir ein Arbeitskollege das Bewusstsein dafür gegeben, dass man das gerne macht, was man gut kann. Geschenkt. Doch vor Weihnachten? Muss sich immer alles rund um das Christkind zusammenschieben? Offensichtlich. Insofern stehe ich also mitten im Struktur- und Optimierungskampf und möchte mich eigentlich – und das kommt selten vor – nur auf das Putzen der Toiletten oder das Entfernen der Spinnweben konzentrieren. Weil ich dabei nicht denken muss, nichts überlegen muss, nichts organisieren muss.

Der Spiegel, in den ich dabei schaue, würde mir ein entspanntes Gesicht zeigen, nach dem ich mich sehne. Ungefähr genauso wie nach meinem Liebsten, aber ein paar Tage bleiben mir ja noch. Um zu meditieren. Um mein Schicksal anzunehmen. Um einen Plan umzusetzen, der mir sinnvoll erscheint. Also auf die Dauer. Und weil ich mich selbst wirklich liebe, tue ich mir am Ende des Tages auch diese Arbeit an. Denn wenn ich die Wahl habe zwischen dauerhaftem Quälen und kurzfristigem Durchbeißen – meine Zähne lassen grüßen -, wähle ich auf jeden Fall die „Augen zu und durch“-Variante. Um dann in Frieden mit den Kindern und unserer erweiterten Patchwork-Familie unter dem Christbaum „Kling Glöckchen klingelingeling“ zu rocken. Dass sie das eingeführt haben, weil ihnen die traditionelle Singweise zu langweilig erschien, wird auch in diesem Jahr ein Segen sein. Denn bei der Rock-Version kann man so richtig alles rausschreien. Und danach liegen wir uns in den Armen. So soll es sein, jedes Jahr aufs Neue.

Die gesprochene Version dieses Textes finden Sie auf www.voll50.com/category/podcast


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