Einerseits waren die letzten Monate die heißesten Monate seit langem. Andererseits hat gefühlt jeder das Gefühl, um den Sommer betrogen worden zu sein. Das Wetter hat als Small Talk-Thema Hochkonjunktur.
Gestern im Gespräch mit meiner wilden Mutter. Für alle, die diesen Begriff nicht kennen: Ich habe ihn zum ersten Mal in Clarissa Pinkolas „Wolfsfrau“ gelesen. Ohne das Ganze hier und jetzt zu sehr aufzuladen – eine wilde Mutter ist das, was ein junger Mensch braucht, wenn er mit einer erwachsenen Frau reden möchte, die nicht seine Mutter ist. Sprich ihn nicht erziehen muss, ihm Werte vermitteln muss, ihn für die Gesellschaft vorbereiten muss. Ich habe oft beobachtet, dass es jungen Menschen genau daran oft mangelt, weshalb ich mich selbst gerne als „wilde Mutter“ zur Verfügung stelle. Angenommen wurde das bereits mehrmals, und ich kann diese Erfahrung nur jeder Frau wünschen.
Irgendwann einmal habe ich festgestellt, dass auch ich so eine „wilde Mutter“ habe, eigentlich sogar zwei. Doch wie so vieles in meinem Leben ist auch diese Erkenntnis erst verspätet, aber nicht zu spät in mein Leben gekommen. Ich war selbst früher „wilde Mutter“, als dass ich meine getroffen hatte. Aber jetzt ist sie da, und ich finde das ganz großartig. Wie auch immer: Zwei wilde Mütter haben sich also unterhalten. Zwei, die eigentlich nichts lieber tun, als sich mit Menschen zu verbinden. Die neugierig auf Menschen sind. Die ihren Intellekt schulen wollen, auch wenn über 20 Jahre Altersunterschied zwischen ihnen liegen. Was beweist: Die Generationenlücke kann, muss es aber nicht geben.
Nachdem wir unsere Eingangsbonmots hin und her geworfen hatten, stellten wir fest: Die Gespräche sind nicht mehr die, die wir so geliebt haben. Also die mit anderen Menschen. Und das aus einem einzigen Grund, nämlich der dünnen Bandbreite der Themen, über die man sich unterhält. Was dazu führt, dass meine früher so gesellige wilde Mutter inzwischen lieber daheim sitzt, als sich in ein Kaffeehaus zu setzen und nach unterhaltsamen Männern Ausschau zu halten. „Alle reden über Corona und das Impfen“, klagt sie. Und auch der Gastronom meines Vertrauens, dem ja ohnehin die Energie seiner Gäste ungefragt ins Haus schwappt, bestätigt das. Die wilde Mutter kann sich entziehen, er nicht. Zumindest nicht, ohne auf Facebook einen Shitstorm zu ernten, weil er sich einen Tag mehr regenerieren will, als das die Crowd von ihm erwartet.
Meine wilde Mutter ist eine Schulfreundin meiner Mutter, mit der sie regelmäßig telefoniert und von der sie wohlwollend anmerkt, dass wenigstens hier die C-Scheisserchen nicht das vorherrschende Thema sind. Sondern das Wetter. Darin ist meine Mutter ziemlich gut, weil sie unter Wetter leidet, egal welchem. Deshalb ist das immer etwas, was sie beschäftigt und womit sie sich auf sicherem Small Talk-Grund bewegt. Mir war ja Small Talk lange ein Graus, weil es stets tausende Themen für mich gegeben hat, die mich interessiert haben. Doch jeder, der schon einmal versucht hat, ein Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, weiß: Dafür braucht es zwei. Ich kenne nur einen Menschen, der das rigoros geschafft hat, nämlich meine Oma. Wenn ihr ein Diskussionsgegenstand nicht gepasst hat, kam sie mitten im Satz eines anderen mit einem ihrer Lieblingsthemen daher: Geld, Essen oder Familie. Keiner wagte es, sich dem zu widersetzen.
Meine Oma hat mir vieles vorgemacht, was ich inzwischen auch in mein Leben integriert habe, das allerdings nicht. Ich finde das grob, weshalb mir nur die Alternative bleibt, bei einem ungeliebten Thema den Ort zu wechseln. Meistens ist es die Toilette, was meine Kusine vermutlich als Fluchtort bezeichnen würde. Also meinen Fluchtort. Insofern müsste ich also gegenwärtig viel Zeit dort verbringen, was ich aber damit vermeide, dass ich gleich von Anfang an auf Wetterthemen einsteige. Ja, es hat etwas Heilsam-Unaufgeregtes, sich über den Kontrast zwischen Hitze und Starkregen zu unterhalten und festzustellen, dass das Wetter ein Spiegel der gesellschaftlichen Gesprächsthemen ist. Es gibt kein Dazwischen mehr. Entweder ist man für etwas oder dagegen. Sich in der Mitte zu treffen, scheint keine erstrebenswerte Qualität mehr zu haben. In meiner Erinnerung hat das vor 20 Jahren begonnen, als der kleine Bush meinte: „Entweder sind sie auf unserer Seite oder auf der Seite der Terroristen.“ Im „Spiegel“ wurde das zu „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ Damals wurde die Welt sehr schnell schwarz und weiß. Und heute ist sie es wieder – oder hat das mit den 256 Graustufen nur in meinem Wunschdenken stattgefunden? Das Internet erklärt mir, dass es diesen Spruch bereits in der Bibel gibt. Na bravo!
Natürlich kann man auch zu Wetter eine Schwarz-Weiß-Meinung haben, also es entweder gut oder schlecht finden. Doch der Spruch „Es gibt kein schlechtes Wetter, sondern nur schlechte Kleidung“ zeigt etwas Wichtiges auf: Es ist eine Sache der Perspektive. Und wenn ich am fünften Tag in Folge bei Regen aufstehe, kann ich natürlich beklagen, dass mir die Sonne fehlt, dass mir kalt ist und dass es völlig unnatürlich ist, schon im August den Ofen anzuheizen. Oder ich freue mich darüber, dass ich passendes Arbeitswetter vorgesetzt bekomme, mich auf mein Zuhause fokussieren und dort etwas bewegen kann. Und darauf vertrauen, dass eines immer wieder eintreten wird: der nächste sonnige Tag. Insofern ist das Reden über das Wetter hoch philosophisch, weshalb ich dafür plädiere, es von der Liste der beliebtesten Small Talk-Themen zu entfernen. Denn man tut ihm unrecht, belässt man es beim Jammern. Das hat das Wetter nicht verdient, weil es viel zu vielschichtig für eindimensionale Menschen ist. Probieren Sie es einmal aus!
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